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Gedanken zum Sonntag

20. Sonntag nach Trinitatis

Alles hat seine Zeit – auch das Altern

Liebe Gemeinde,

das wahrscheinlich bekannteste Wort aus dem sonst weniger bekannten Buch des Predigers ist doch »Alles hat seine Zeit.« Unter dieser Einsicht entfaltet der Prediger Salomo den bunten Fächer des Lebens: geboren werden und sterben, pflanzen und ausreißen, weinen und lachen, klagen und tanzen, lieben und hassen, Streit und Friede. Gott sei Dank hat alles seine Zeit, seine Stunde. Alles gleichzeitig – das würde uns hoffnungslos überfordern.

 

Weniger bekannt ist, was der Prediger Salomo am Ende seines kleinen Buches schreibt. Dort nimmt er das »Alles hat seine Zeit« auf und sagt, was dieses für uns biographisch heißt. Er überträgt in unseren Lebenslauf, was die Zeit mit uns macht. Wir werden älter und älter – und schließlich und hoffentlich alt. So wünschen wir es uns doch alle! Oder etwa nicht?

 

Hört, was der Prediger schreibt.

– Lesen des Predigttextes: Prediger 12, 1–7 –

 

Unter drei Stichworten will ich dem Gehörten nach-denken: Nüchternheit, Humor und Hoffnung.

 

Nüchtern sein

In den Beständen alter Familienfotos zu blättern kann spannend sein: der Vater als Baby, die Mutter bei der Einschulung, ein Hochzeitsbild der beiden. Dann Bilder mit den Kindern, die deren Entwicklung vom hilflosen Neugeborenen über die ersten unbeholfenen Schritte und den abwartend-stolzen Blick des Schulanfängers hin zum Konfirmanden zeigen. Schließlich kommen Enkel, ja vielleicht sogar Urenkel dazu. Veränderungen sind unverkennbar – und das Voranschreiten der Zeit.

Die Zeiten ändern sich. Die Zeit verändert uns. Sie hinterlässt deutliche Spuren.

 

Atemberaubend sind die Entwicklungen bei Kindern, unübersehbar die Veränderungen im Jugendalter. Dann kommen Lebensphasen, in denen die Zeit nur wenig verändert. Irgendwann kommt die dritte Lebensphase, wie heute das Alter genannt wird. Dieses wird wieder in drei Phasen aufgeteilt. Die mobilen Alten, die eingeschränkten und die hilfsbedürftigen. In Englisch, kurz und bezeichnend: Go go, slow go, no go. Irgendwann lässt die Leistungsfähigkeit nach. Gesundheitliche Probleme stellen sich ein. Was leicht von der Hand ging, wird zu einem beschwerlichen Kraftakt. Was selbstverständlich war, geht nicht mehr. Wir werden immer hinfälliger. Immer öfter sterben Altersgenossen. Es kommen Tage und Jahre, »die dir nicht gefallen«. Wie recht hat der Prediger!

 

Jedes Alter hat sein Maß an Chancen und Herausforderungen. In der Jugendzeit scheinen die Möglichkeiten unbegrenzt. Je weiter die Jahre voranschreiten, umso deutlicher werden die Grenzen – auch die letzte Grenze. Der Prediger stellt in unserem Abschnitt das Alter ungeschönt dar und rät, sich dem Alter zu stellen. Wir folgen ihm. Verdrängung und Verleugnung helfen uns nicht. Leben heißt, bis zum letzten Atemzug zu wachsen und zu reifen.

 

Nüchtern wird die Beschwerlichkeit des Alters und die Vergänglichkeit des Lebens angesprochen. Der Prediger rät dringend, sich nicht erst im hohen Alter mit dem Altwerden und dem Lebensende auseinander zu setzen. Wer diese Lebensaufgabe auf die Seite schiebt, wird von ihr allzu leicht überrollt, versäumt eine Wachstumsstufe, einen Reifungsprozess.

 

Ob uns dieses gefällt oder nicht: »Alles vergeht und verweht.« Die Unbeschwertheit des Kindseins, die Schönheit der Jugendzeit, die Kraft des Erwachsenseins, das Leben. Entwaffnend nüchtern schließt der Prediger seine Gedanken.

 

 

Humor

Das ist bemerkenswert: Der Prediger beschreibt die Gebrechlichkeit des Alters in poetischen Bildern. Nein, er macht sich nicht lustig über das, was uns am Alter nicht gefällt. Er nimmt es nicht leicht. Er nimmt die Beschwerlichkeiten des Alters mit Humor. Humor ist eine besondere Gabe. Humor macht Schweres leichter.

 

Wir alle kennen alte Menschen. Manche sind heiter und dankbar – trotz ihnen auferlegter Beschwerlichkeiten. Ihnen zu begegnen ist schön. Andere aber sind unzufrieden und bitter. Lasten des Lebens und des Alters drücken sie nieder. Ihnen zu begegnen ist anstrengend. Kein Zweifel, die Last eines langen Lebens und des Alters mit seinen Gebrechlichkeiten kann nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Aber ein humorvoller Umgang mit diesen hilft, nicht zu verbittern. Der Prediger regt dazu an.

 

Die Bilder, die der Prediger aufnimmt, berühren. Man muss sie nur verstehen. Die Wächter des Hauses, die zittern, das sind die Arme. Und die starken Männer, die sich krümmen, die Beine. Die Müllerinnen, die die Arbeit einstellen, meinen die Zähne. Und die Frauen, die nur noch dunkle Schatten erkennen, stehen für die Augen. Die beiden Türen, die geschlossen werden, sind die Ohren. Und mit dem leiser Werden der Mühle wird die Veränderung der Stimme beschrieben. Die Kräfte schwinden und jedes Hindernis bereitet Schrecken. Die Haare werden schlohweiß: die Mandelbäume blühen. Schließlich kommt das Sterben als endgültiges reif Werden und der Tod.

 

Treffend und schmunzelnd wird in diesen Bildern beschrieben, was fortschreitendes Alter mit sich bringt: das Nachlassen der Kraft, des Gedächtnisses, der Augen, des Gehörs. Die Kreise werden kleiner. Der Prozess des Alterns verläuft nicht bei allen gleich, auch geschieht nicht alles gleichzeitig. Aber mit höherem Alter kommen Einschränkungen, Beschwerden, Krankheiten, Leiden und Hinfälligkeit – trotz guter medizinischer Versorgung und mancher Erleichterung, die wir den Menschen biblischer Zeit voraushaben. Es ist gut, sich frühzeitig dieses klar zu machen. Es ist gut, sagt der Prediger, schon in der Jugend das Vertrauen auf Gott zu setzen. Das gibt im Alter einen Halt.

 

Wohl dem und der, die mit Humor ausgestattet sind.
Humor ist keine Veranlagungssache. Humor wächst uns im Laufe des Lebens zu, indem wir lernen, mit Schwerem
und unseren Begrenzungen positiv umzugehen. Und indem wir dahin kommen, es zu bejahen, anzunehmen und so zur Kraft für die Zukunft werden zu lassen. Humor bewahrt vor Bitterkeit und Selbstmitleid. Humor erhält die Denkbarkeit. Humor ist eine Sache der Einstellung zum Leben – und eine Frucht des Gottvertrauens und der Hoffnung.

 

Hoffen

»Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat, bevor die silberne Schnur zerreißt und die goldene Schale zerbricht … Dann kehrt der Staub zur Erde zurück, aus dem der Mensch gemacht ist. Und der Lebensatem kehrt zu Gott zurück, der ihn gegeben hat.«

 

Einzigartig und kostbar ist unser Leben, aber eben auch begrenzt. Der Lebensodem wird von Gott geschenkt und kehrt zu ihm zurück. Irgendwann verweht der Wind die Spuren, die wir hinterlassen. Der Prediger sagt: »Alles verweht und vergeht.« Zaghaft ist seine Hoffnung: Der Lebensatem kehrt zu Gott zurück.

 

Der Prediger kennt noch nicht die Hoffnung, die uns durch Jesu Christi Auferstehung geschenkt ist. Diese jedoch bekräftigt seine zaghaft ausgedrückte Hoffnung. Für uns, die wir an Jesus Christus glauben, ist der Tod nicht das Letzte. Wir glauben, dass Gott ein Gott der Lebenden und der Toten ist. Wir glauben an die Auf-erstehung der Toten und das ewige Leben.

 

Unsere Hoffnung geht über den Tod hinaus. Das Leben hier ist nicht alles. Unser Leben hat ein Ziel. Jesus Christus wird uns vollenden und ewiges Leben in seinem Reich schenken. Darauf gehen wir zu. In guten Zeiten wollen wir das nicht vergessen.

In schweren Zeiten dürfen wir uns darauf freuen.

 

Und dort beim Herrn, wird alles Schwere, Belastende, Schwäche, Krankheit, Leid, Not und Tod vorbei sein.
Da wird klar sein, dass auch die Beschwerlichkeiten des Alters nichts Anderes waren als die Vorbereitung auf das Leben bei ihm. Und wir werden ewig selig sein.

 

Alles hat seine Zeit. Gott schenkt dir Leben und Zeit – und Leben in seiner Ewigkeit.   Amen.

Lied: Meine Zeit steht in deinen Händen EG 369 1-3

 

Dekan i. R. Harald Klingler

 

 

 

 

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Gedanken zum Sonntag

19. Sonntag nach Trinitatis

Predigt zum 19. Sonntag nach Trinitatis, 10. Oktober 2021

 

Jesaja 38, 9-20: Dies ist das Lied Hiskias, des Königs von Juda, als er krank gewesen und von seiner Krankheit gesund geworden war: Ich sprach: In der Mitte meines Lebens muss ich dahinfahren,

zu des Totenreichs Pforten bin ich befohlen für den Rest meiner Jahre. Ich sprach: Nun werde ich nicht mehr sehen den Herrn, ja, den Herrn im Lande der Lebendigen, nicht mehr schauen die Menschen, mit denen, die auf der Welt sind. Meine Hütte ist abgebrochen

und über mir weggenommen wie eines Hirten Zelt. Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber; er schneidet mich ab vom Faden. Tag und Nacht gibst du mich preis; bis zum Morgen schreie ich um Hilfe; aber er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe; Tag und Nacht gibst du mich preis. Ich zwitschere wie eine Schwalbe und gurre wie eine Taube. Meine Augen sehen verlangend nach oben: Herr, ich leide Not, tritt für mich ein! Was soll ich reden und was ihm sagen? Er hat’s getan! Entflohen ist all mein Schlaf bei solcher Betrübnis meiner Seele. Herr, davon lebt man, und allein darin liegt meines Lebens Kraft: Du lässt mich genesen und am Leben bleiben. Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe; denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück. Denn die Toten loben dich nicht, und der Tod rühmt dich nicht, und die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Treue; sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute. Der Vater macht den Kindern deine Treue kund. Der Herr hat mir geholfen, darum wollen wir singen und spielen, solange wir leben, im Hause des Herrn!

 

Liebe Mitchristen !

 

Manchmal werden wir mitten aus dem Leben herausgerissen und stehen auf einmal vor dem Nichts. Alle unsere Pläne sind auf einen Schlag über den Haufen geworfen. Und da wo gestern noch der Weg in die Zukunft vor uns lag, da tut sich plötzlich ein Abgrund auf. Was hat uns so herausgerissen und entwurzelt? Was hat uns den Boden unter den Füßen weggezogen? Der Verlust des Arbeitsplatzes kann das sein. Oder das Ende einer Beziehung. Der Abschied von einem geliebten Menschen. Eine schwere Krankheit. Wir stehen mitten im Leben, und dann kommt eine Krise und wirft uns aus der Bahn. Manchmal gibt es nicht einmal einen ersichtlichen Grund dafür. Midlife-Crisis nennen das die Psychologen dann. Der König Hiskia, von dem unser Predigttext erzählt, der stand auch mitten im Leben. Er hat es auf der Karriereleiter ganz nach oben geschafft. Er hat alles erreicht, was man sich nur wünschen kann.

 

Unter den Politikern seiner Zeit war Hiskia ein Star. Umfragen gab es damals natürlich noch nicht, im 8. Jahrhundert vor Christus. Aber wenn es sie gegeben hätte, dann wäre Hiskia mit Sicherheit ziemlich weit oben gelandet. Da gab es zwar noch die beiden Herrscher der Supermächte seiner Zeit: Assyrien im Norden und Ägypten im Südwesten von Israel. Die hatten schon wegen ihrer militärischen Macht immer die Aufmerksamkeit auf ihrer Seite. Aber für den Herrscher eines Kleinstaates zwischen den großen politischen Blöcken hatte Hiskia es geschafft. Das sahen nicht nur seine Zeitgenossen so. So sahen es auch die biblischen Schriften, die im zeitlichen Abstand auf die Könige von Juda und Israel zurückschauten. Die gehen mit fast allen Königen scharf ins Gericht. Hiskia gehört da zu den ganz wenigen, die ausdrücklich gelobt werden. Und seine politischen Leistungen waren dabei gar nicht das Entscheidende. Die Bibel hat hier andere Maßstäbe an einen guten Herrscher – ob ein König aus dem Glauben an den einen Gott lebt, ob er die Verehrung dieses einen Gottes in seinem Land unterstützt und fördert. Hiskia hat das gemacht. Er hatte sogar einen Propheten als Ratgeber – den Prophet Jesaja. Religion ist für Hiskia nicht nur Mittel zum Zweck, damit er als Herrscher gut dasteht. Hiskia meint es ernst mit dem Glauben, Hiskia erfährt Gottes Segen.

 

Aber dann kommt dieser Schlag ins Genick. Mitten im Leben trifft es Hiskia. Und es trifft ihn richtig hart. Es liegt glasklar vor Augen: Das hier ist mehr als eine Midlife-Crisis. Hier geht es nicht um ein paar dunkle und orientierungslose Jahre, die vorübergehen werden, und dann geht das Leben weiter. Bei Hiskia ist es anders: „Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht am Leben bleiben,“ sagt ihm der Prophet Jesaja. Eine persönliche Katastrophe, die Hiskia aus der Bahn wirft. Hiskia ist todkrank. Wahrscheinlich muss man nicht einmal ein Prophet sein, um das zu sehen. Aber Jesaja, der Prophet und Ratgeber Hiskias, der spricht es aus. „Sie haben nur noch ein paar Monate,“ sagt der Arzt. „Wir können leider nichts mehr für Sie tun.“ Jeden Tag passiert das, in den Krankenhäusern und Arztpraxen. Jeden Tag müssen Ärzte diese Worte aussprechen. Jeden Tag hören Menschen diese Schreckensnachricht, werden sprachlos und stumm oder bäumen sich dagegen auf und schreien. „Ich zwitschere wie eine Schwalbe und gurre wie eine Taube“, so beschreibt Hiskia das – diese Sprachlosigkeit, in der keine Worte mehr da sind, nur noch unartikulierte Laute wie von Tieren. Die unerträglichen Schmerzen beschreibt er – sie sind wie ein Löwe, der ihm alle Knochen zerbricht. Sein Leben wird zerfressen von dieser Krankheit, aufgefressen wie von einem reißenden Raubtier. So erlebt es Hiskia. Ich stehe am Tor zur Totenwelt, so ruft er. Die Menschen, die ich liebe, werde ich nicht mehr sehen. Und auch Gott nicht mehr loben können.

 

Ausgerechnet Hiskia trifft es. Dabei hat er doch so viel erreicht. Dabei hat er doch noch Pläne für die Zukunft. Aber das alles zählt jetzt nicht mehr. Warum gerade ich? Das fragt sich Hiskia. Es gibt keine Erklärung dafür. Das Warum einer Krankheit lässt sich nicht erklären. Ganz sicher jedenfalls geht es nicht um eine Strafe, auch nicht um eine Prüfung. Krankheit und Leid sind keine Gottesstrafe und kein Frömmigkeitstest. Hiskia trifft es halt.

 

Wie nimmt Hiskia diese Nachricht auf? Die Bibel erzählt: Er verdeckt sein Gesicht. Er sucht Schutz, indem er sich zur Wand dreht. Schmerz ist eine ganz persönliche Angelegenheit. Niemand soll Hiskia jetzt sehen. Er braucht Zeit – Zeit für sich und seine Verzweiflung. Und dann bricht es aus Hiskia heraus, in seinem Gebet zu Gott: Warum Gott? Was ist der Sinn? Hiskia verliert nicht seinen Glauben an Gott. Er sagt nicht: Wenn mir so etwas passiert, dann kann es Gott nicht geben. Hiskia bleibt dran am Glauben. Er ringt mit Gott. Und er fleht Gott an: Erinnere dich doch, Gott. Denke doch an deine Güte. An meine Versuche, dir zu dienen und die Gaben zu nutzen, die du mir gegeben hast. Gott, ich leide Not! Hilf mir! Doch dann verlassen Hiskia die Worte, und der Schmerz bricht sich Bahn. Hiskia weint bitterlich.

 

So schildert die Bibel Hiskia in seinem Schmerz und seiner Verzweiflung. Und erzählt dann weiter, wie Hiskia plötzlich Gnade erfährt, ganz unverdient. 15 Jahre werden ihm noch geschenkt. So sagt es ihm der Prophet Jesaja. Warum bekommt Hiskia noch 15 Jahre geschenkt? Auch dafür gibt es keine Erklärung. Ja, Hiskia hat mutig gebetet. Er hat bitter geweint. Er hat ganz auf Gott vertraut, dankbar für alles Gute, was er in seinem Leben bisher erfahren durfte. Aber wir alle wissen: Nicht jedes Leid wird dadurch gewendet. Nicht jede Krankheit wird dadurch geheilt. Oft behalten die Ärzte eben doch Recht mit ihrer schlimmen Nachricht, und das Leben ist bald zu Ende gelebt. „Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber; er schneidet mich ab vom Faden,“ sagt Hiskia dazu in seinem Lied. Unser Leben als Webstück – das ist ein Bild, das nicht nur schmerzlich, sondern auch tröstlich ist. Denn wenn der Faden reißt, dann bleibt das, was gewebt ist an diesem Leben. Es bleibt ein Kunstwerk, dieses Leben – wertvoll und aus Gottes Hand. Mit allem, was dazugehört: Den schönen und sauber gewebten Stücken genauso wie mit den eher unordentlichen, den Löchern und Brüchen im Leben. Und wer von uns kann beurteilen, wann dieses Kunstwerk unseres Lebens vollendet ist? Es bleibt geborgen in Gottes Hand – egal. wie groß und umfangreich es gewebt worden ist. Das Leben bleibt ein Geschenk von Gott: Kostbar, unverfügbar und begrenzt. So wie es in Psalm 90, 12 heißt: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Jeder Tag unseres Lebens ist geschenkte Zeit von Gott – jeder neue Morgen, an dem wir die Vorhänge aufziehen und die Sonne sehen.

 

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer (nach Gedanken von Christian Nottmeier)

 

 

 

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Gedanken zum Sonntag

Erntedankfest

 

Liebe Gemeinde,

 

Sonntag für Sonntag bitten wir im Gottesdienst um eine Spende für die eigene Gemeinde, wie für andere Projekte in der Region und weiterweg, wie bei den Weltmissionsprojekten. Es ist selbstverständlich, dass wir auch am Ende des Kalenderjahres in den Kirchengemeinden im Lande um eine Spende für bestimmte Projekte der Kirchengemeinde bitten.

Und schön ist es zu sehen, dass Erntedank auch gefeiert werden kann. Die Gaben, die wir hier sehen, sind das Zeichen dafür, dass wir nicht vergessen wie reichlich, wir beschenkt sind.

Es ist ein schönes Bild und doch ersichtlich zu sehen, wieviel Reichtum um uns herum wächst und gedeiht. Da dies auf Grund des Klimawandels nicht mehr in jeder Region der Welt selbstverständlich ist, ist ein Grund bewusst DANKE zu sagen.

Was sagt aber Paulus den Korinthern dazu im zweiten Brief 9,6-15.

      Lesung des Predigttextes –

Die Sachlage ist klar: Eine Kollekte ist angekündigt. Das Geld soll die Gemeinde in Jerusalem unterstützen. Darüber ist die Gemeinde in Korinth informiert. Denn vorab schreibt Paulus, dass er „Brüder“ zu ihnen geschickt hat, damit sie die Gaben rechtzeitig zusammenstellen. Widerstand oder ein Zögern hat es vermutlich ergeben, denn sonst würde Paulus über die Wirkung des Gebens nicht ausdrücklich in diesem Brief schreiben.

Schauen wir uns näher an, wie Paulus seine Brüder und Schwestern motivieren will, mit lauter Lauterkeit, zu teilen.

Mit diesen Worten fängt alles an: Und Gott sah, dass es gut war. Es sind bekannte Worte aus der Schöpfungserzählung in Gen1. Er sah, dass es gut war. Ja, unsere Augen leuchten vermutlich wie die Augen Gottes im Anblick der Gaben, der Natur, die ihr Kleid langsam in rötliche und gelbe Töne zu dieser Jahreszeit wechselt. Das Herz erfreut sich über die Früchte! Wie gut es riecht, wenn das Apfelbeet aus dem Ofen kommt…alle Sinnen, Augen, Nase und Geschmack werden dabei angeregt!

Ist es nicht die Stimmung, die Paulus beschreibt, wenn er davon spricht, dass mit ganzem Herzen und fröhlich geteilt werden soll.

Ich teile mit ganzem Herzen mein Vesperbrot. Das ist etwas, was ich in der Schule öfters erlebe: Es gibt Kinder, die einfach im Wachstum doch an manchen Tagen mehr Hunger haben als ihre Vesperdose herbringt. Da leuchten die Augen, wenn es von einem Mitschüler was bekommt – ein Stück Möhre, ein Brot, eine Schokolade. Der Geber oder die Geberin ist im Gegenzug glücklich, dass er – sie den Hunger des anderen stillen konnte. Das kann nur gute Laune erzeugen – Das erfreut Gott, sagt Paulus. Ob auf dem Schulhof oder bei den wöchentlichen Sammlungen für die Tafel. Vielleicht haben Sie gestern in der Zeitung online oder in Papierform gelesen, dass die Tafel in Tuttlingen wöchentlich auf die privaten Spenden angewiesen ist – übrigens die Tafel in Trossingen ebenso. Sie stehen sich nicht in Konkurrenz, sie gehören beide zur Kreisdiakoniestelle in Tuttlingen. Wer dort Lebensmittel holt, braucht ein Ausweis, der herstellt wird, wenn das monatliche Einkommen unter 1135€ für eine Person liegt, z.B. Nicht so weit wie Jerusalem damals sollen die Spenden helfen. Wie hoch die Spendenbereitschaft auch war, als das Wasser das Ahrtal überflutet und zerstört hat. Geben mit ganzem Herzen und sehen. Dass es gut war.

Die Kirchengemeinde Wehingen hat doch jahrzehntelang die evangelische Kirchengemeinde in Wernshausen in Thüringen unterstützt. Das war selbstverständlich, dass Brüder und Schwester damals in der DDR durch Gaben und Begegnungen beschenkt wurden. Diese Zeiten haben sich geändert. Die Grenzen sind offen und es ist gut diese Brüder und Schwester in der Freiheit zu begegnen, wie ich vor zwei Wochen bei einem internationalen Prädikantentreffen in Strasburg wieder die Erfahrung habe machen können. Deshalb ist es auch wichtig, sich an diese Zeit – in der Geschichte der Bundesrepublik zu erinnern. Über die Fernbeziehungen unter Christen ist ein Band entstanden, der heute mehr oder weniger ersichtlich noch ist. Aber der Ruf nach Freiheit war groß und still über die Montagsgebet zu hören. Dies stellt der Brunnen dar, dessen Fotos sie bekommen haben. Der Brunnen steht in Leipzig auf dem Hof der Nikolai Kirche. Das Wasser fließt ruhig und sanft über dem Rand entlang des Mauerchens in eine Rille. Sie stellt dar, wie der Freiheitsdrang in den Menschen ist und sich doch sanft, wie im Gebet ausbreiten und anderen anstecken kann. Wie eine Gabe!

Paulus fügt in seinem Brief hinzu, dass das Geben zum Segen wird, für den Geber und für den Empfänger. Das Geben erzeugt Dankbarkeit, Zufriedenheit…Frieden. Gott gibt uns seinen Frieden, so heißt es beim Segen am Ende des Gottesdienstes. Ein Schalom,

…der ganzheitlich ist

…der Seele, dem Herz Trost gibt

…der Ruhe in mir bringt

…der mich stärkt im Alltag.

Die Brüder und Schwester in Korinth und in Jerusalem wissen sich über die Gaben untereinander unter dem Segen Gottes verbunden. Vielleicht ist es gut, dass Paulus sie daran erinnert. Diese Gaben sind Zeichen der Gerechtigkeit Gottes durch unser Tun. Dadurch fühlt sich keiner allein. Durch das Teilen entsteht eine Form von Gemeinschaft. Auch wenn wir die Empfänger nicht persönlich kennen. Im Vertrauen darauf, dass diese Gaben verteilt werden, gezielt an Menschen, die die Hilfe brauchen.

Wenn wir nachher das Abendmahl miteinander feiern, erfahren wir, wie reichlich uns Jesus beschenkt. Es geht um Vergebung, um Stärkung. Erfüllt von der Gnade und gestärkt ermutigt uns Paulus diese Fülle hinauszutragen und mit ganzem Herzen, sie weiter zu schenken. Und selbst dadurch beschenkt zu werden….um dann DANKE sagen zu können.

Tina Willms schreibt:

Wer gekostet hat

Vom Brot des Lebens,

wer unter Jesu Wort

seelensatt sich

in Gottes Arme schmiegt,

 

wie könnte er anders

als weitergehen,

sich dem Nächsten

verschenken, bis

 

ein Menschenband

die Erde umspannt

und weiterreicht

von Mund zu Mund

und Hand zu Hand

das Lebenswort:

Nimm hin und iss!

 

Wie könnte er anders

Als Brot zu teilen,

Wort zu halten:

Brot und Wort für die Welt.

Amen

 

Lied: Kommt, atmet auf, ihr sollt leben 639, 1-3

 

 

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16. Sonntag nach Trinitatis

Predigt zum 16. Sonntag nach Trinitatis, 19. September 2021

Klagelieder 3,22-26 und 31-32: Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen. Denn der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. Denn nicht von Herzen plagt und betrübt er die Menschen.

Liebe Mitchristen!

Heute Morgen bin ich aufgestanden und habe gedacht: Was für ein wunderschöner Morgen. Die Sonne scheint, beinahe wie im Sommer. Und das, obwohl es schon September ist. Richtig spätsommerlich schön ist es jetzt. Fast wie eine kleine Entschädigung für den kalten und verregneten Sommer, den wir hatten. Und ich denke zurück an den Sommer, der jetzt hinter uns liegt. Ich denke an die Ferien und an den Urlaub. Ich denke an die wenigen Sonnentage, die wir in diesem Sommer doch auch hatten. Wo konnte ich diese schönen Tage genießen? Vielleicht war das irgendwo in der Ferne, an einem schönen Urlaubsort. Aber mit dem Verreisen war es ja immer noch schwierig, und so manche Planung musste ich wegen Corona wieder über den Haufen werfen. Also bleibe ich in meinen Gedanken hier auf dem Heuberg, wenn ich an den vergangenen Sommer zurückdenke. Ich denke an einen der wenigen richtig sommerlichen Tage hier, und ich bin draußen in der Natur. Pflanzen und Tiere gibt es hier zu sehen: Blumen, Schmetterlinge und Vögel. Ein Vogel ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Die Lerche. Ein kleiner und unauffälliger brauner Vogel ist das. So ist die Lerche gut getarnt und draußen in der Wacholderheide kaum zu erkennen. Ich erkenne die Lerche nur an ihrem Gesang – und vor allem erkenne ich die Lerche daran, wie sie singt. Die Lerche ist nicht wie die anderen Vögel, die irgendwo auf einem Baum sitzen und singen. Die Lerche sitzt ganz unten im Gras. Von dort unten vom Boden startet sie dann und fliegt los. Fast senkrecht steigt sie nach oben in den Himmel. Und dort ganz oben am Himmel sehe ich sie nur noch als einen winzigen Punkt. Da bleibt sie in der Luft stehen und zwitschert aus voller Kehle. Sie singt so laut, dass man sie über die ganze Wacholderheide hört.

Es ist schon etwas Besonderes, dass wir hier auf dem Heuberg immer wieder auch den Gesang der Lerche hören können. In Deutschland gehört sie inzwischen zu den bedrohten Arten, und in manchen Gegenden ist ihr Gesang schon ganz verstummt. Für unsere Großeltern war der fröhliche Gesang der Lerche noch ein täglicher Begleiter. Ihr lateinischer Name „Alauda“ wurde als „Lauda Deum“, Gott loben, gedeutet. Und ihr Zwitschern verstand der Volksmund als Beten. „Gottes Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu.“ So heißt es in dem Bibeltext, den wir gerade gehört haben. Das klingt feierlich. Gottes Barmherzigkeit, das ist ein altes und feierliches Wort. Gott liebt uns. Gott ist immer für uns da, an jedem Tag, an jedem neuen Morgen. Das ist damit gemeint. Was ist da wirklich dran an Gottes Liebe und an Gottes Barmherzigkeit, von der wir hier in der Kirche immer reden? Hat das etwas mit mir zu tun? Kann ich das wirklich erleben und spüren in meinem Leben? Ja, Gottes Liebe und Barmherzigkeit kann ich erleben und spüren in meinem Leben – zum Beispiel an einem sonnigen Morgen wie heute, wenn wir zusammenkommen und Gottesdienst feiern. Dann spüre ich etwas von Gottes Liebe und Barmherzigkeit. Und dann mache ich es wie die Lerche, und ich fange an zu singen. Und auch wenn ich keine Flügel habe, die mich ganz nach oben in den Himmel tragen, mit meinem Herz bin ich dann doch dort oben – ganz nahe bei Gott.

So haben zu allen Zeiten die Menschen ihre Lieder gesungen für Gott. Die Melodien und die Rhythmen haben sich immer wieder verändert in all den Zeiten. Und das darf auch so sein. Nicht jeder mag dieselbe Musikrichtung. Nicht der Musikstil ist wichtig, sondern dass wir mit dem Herzen dabei sind. Schon in der Zeit der Bibel haben die Menschen solche Lieder gesungen für Gott. Die Melodien dieser Lieder kennen wir heute nicht mehr. Aber die Texte sind in der Bibel aufgeschrieben: „Gottes Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu.“ Das ist so ein Liedtext aus der Bibel. Dieser Liedtext gehört in eine ganze Liedersammlung, die in der Bibel steht. Diese Liedersammlung hat die Überschrift: Klagelieder Jeremias.

Klagelieder. Davon könnten wir auch ein Lied singen. Von dem, was alles nicht so gut läuft. Angefangen von dem verregneten Sommer, von diesen Sommerferien, die wir uns anders vorgestellt hatte. Und jetzt im neuen Schuljahr zieht das Tempo wieder voll an. Und die Schülerinnen und Schüler fragen sich: Wie soll ich das bloß schaffen, die Lücken aufzuholen vom letzten Schuljahr, wo es wegen Corona kaum normalen Unterricht gab? Viel gibt es, was nicht so gut läuft. Freundschaften, die zerbrechen. Streit in der Familie, Mobbing und Zukunftsängste gibt es.

Der Prophet Jeremia hatte auch viel Grund zur Klage. Sein Volk Israel ist von Feinden überfallen worden. Diese Feinde hatten die Israeliten gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen. Jetzt lebten sie irgendwo in einem fremden Land, in der fremden Stadt Babylon und in Israel war alles vom Krieg zerstört. „Gottes Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu.“ Dieses Lied dichtet der Prophet in dieser verzweifelten Lage. Es gibt eigentlich überhaupt keinen Anlass dafür, so ein fröhliches Lied zu dichten. Gottes Liebe und Barmherzigkeit sind nirgends zu erkennen in dieser dunklen Zeit, in der Jeremia damals lebt. Aber der Prophet dichtet ein Loblied. Und er fängt an zu singen. Und ich stelle mir vor: Während er singt, da spürt er etwas von Gottes Güte und Barmherzigkeit. Sein Herz hebt sich zum Himmel. Wie kann das sein? Es hat sich doch nichts geändert. Seine Lage und die seines Volkes ist immer noch genauso verzweifelt wie vorher.

Ich denke noch einmal an die Lerche, an diesen kleinen, unscheinbaren Vogel. Etwas Ungewöhnliches geschieht, wenn eine Lerche von einem Raubvogel angegriffen wird. Aufgrund ihrer fehlenden Flugkünste kann sie nur schwer den Angriffen ausweichen. Es geht um ihr Leben. Aber: Wenn sie angegriffen wird, hört sie nicht auf zu singen. Sie zwitschert und trillert aus Leibeskräften mitten in aller Bedrohung. Auch wenn ihr Leben auf dem Spiel steht. Mit ihrem Gesang zeigt sie ihrem Verfolger, welche Kraft sie hat: „Hör mal, Falke, ich singe. Ich habe noch so viel Kraft und Reserven, dass ich mir das leisten kann. Du wirst mich also niemals bekommen können.“ Die Lerche singt weiter. So wie der Prophet Jeremia, der sich nicht unterkriegen lässt in seiner schwierigen Situation. Er hält daran fest: Gott liebt mich. Gott ist immer für mich da, an jedem Tag, an jedem neuen Morgen. Davon singt Jeremia mit seinem Lied: „Gottes Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu.“ Und dieses Lied gibt ihm Kraft und hilft ihm, sein Leben zu meistern, auch an den dunklen Tagen. Das wünsche ich uns allen.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

 

 

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Predigt zum 15. Sonntag nach Trinitatis, 12. September 2021



Lukas 17, 5-6: Und die Apostel sprachen zu dem Herrn: Stärke uns den Glauben! Der Herr aber sprach: Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und verpflanze dich ins Meer!, und er würde euch gehorsam sein.

Liebe Mitchristen!

Stellen Sie sich vor, das Unmögliche wäre auf einmal möglich. Da ist dieser große und tief verwurzelte Baum. Und ich sage: Reiß dich aus und versetze dich ins Meer. Und es passiert so. Da sind tödliche Krankheiten und Pandemien. Und ich sage: Verschwindet für immer und kommt nie wieder. Und es passiert so. Da sind die leeren Hände der Hungernden mit ihren ausgemergelten Gesichtern. Und ich sage zu den leeren Händen: Füllt euch mit Essen im Überfluss. Und es passiert so. Zu den kaputten Beziehungen sage ich: Werdet wieder heil, und zu den begrabenen Hoffnungen: Steht wieder auf und seid lebendig! Und all das passiert. Schön wäre das. Viel zu schön, um wahr zu sein, sagen wir. 

Und dann wache ich also auf aus diesem schönen Traum und denken: „Was habe ich da nur für ein Zeug geträumt?“ Ich schüttle den Kopf über mich und meine Träume. Ich stehe auf und vergewissere mich: Hier ist die Wirklichkeit. Ich stehe mit beiden Beinen auf dem Boden, und der Boden unter meinen Füßen trägt mich. Die Uhr im Nebenzimmer tickt und geht richtig. Der Terminkalender zeigt mir, was heute zu tun ist, und auf dem Handy gehen die ersten Nachrichten ein. So mache ich mich an mein Tagwerk und wische den Traum weg, in dem alles Kopf stand. 

Aber manchmal ist es anders. Manchmal schaffe ich es, ein winziges Bisschen von diesem Traum in die Wirklichkeit hinüberzuretten –winzig klein, nicht größer als ein Senfkorn. Für einen winzigen Augenblick schaffe ich es, den Boden unter meinen Füßen auch mal loszulassen. Und meine Füße fangen an zu tanzen. Neue Wege öffnen sich. Für einen winzigen Augenblick schaffe ich es, das Ticken der Uhr auszublenden und mich von Terminkalender und Handy loszueisen. Und meine Gedanken werden frei. Neue Ideen keimen auf. Nur ein winzig kleiner Augenblick ist das, in dem der Vorhang sich öffnet und der Blick frei wird für ungeahnte Möglichkeiten. Nur ein ganz kurzer Moment, in dem die Stimmen in mir schweigen, die sonst immer sagen: „Das wird doch nie was. Da kann ja nicht funktionieren. Das ist doch absurd.“ Ein Moment, nicht größer als ein Senfkorn. Aber dieser winzige Augenblick kann ausreichen, um etwas zu verändern. Mein Leben kann sich ändern. Die Welt kann sich ändern. Das ist meine Überzeugung. Das ist mein Glaube. 

Jesus sagt zu seinen Jüngern: „Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und verpflanze dich ins Meer!, und er würde euch gehorsam sein.“ Bei solchen Worten höre ich sie sofort wieder – meine inneren Stimmen, die mir sagen: „Das wird doch nie was. Da kann ja nicht funktionieren. Das ist doch absurd.“ Ja, es ist wirklich absurd, was Jesus da erzählt: Ein Maulbeerbaum, der sich ausreißt und ins Meer verpflanzt. Und dort im Meer kann er noch dazu gar nicht gedeihen. Ich stelle mir das bildlich vor, diesen fliegenden Maubeerbaum auf seinem Weg zum Meer. Dieses Bild hat etwas Surrealistisches. Ich muss an die Bilder von Salvador Dali denken. Dieser Maler hat zerlaufende Uhren gemalt oder Giraffen mit Schubladen im Hals. Traumbilder sind das, die Unbewusstes und Absurdes ins Bild setzen und so neue Perspektiven eröffnen. Nicht jeder kann mit solchen Bildern etwas anfangen. Erst recht gilt das für die Worte Jesu vom senfkornkleinen Glauben, der Bäume ausreißen und ins Meer verpflanzen kann. Was die Jünger wohl über diese Geschichte gedacht haben? „Stärke uns den Glauben!“ Das war ihre Bitte an Jesus. Und jetzt das! Ich stelle mir ihre ratlosen und enttäuschten Gesichter vor, während Jesus vom entwurzelten Maulbeerbaum und vom Meer redet. 

Und Jesus? Wie hat er diese Geschichte erzählt? Ich stelle mir vor, dass er sie nicht mit ernster Miene erzählt hat, sondern eher mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. Ich stelle mri vor, dass Jesus sagen wollte: „Merkst du nicht die Komik, stell es dir doch vor: Ein Maulbeerbaum, der sich entwurzelt, über eine kopfschüttelnde Menschenmenge hinweg ins Meer fliegt, wo er sich neu einwurzelt.“ „Absurd!“, denken die Menschen. „Das darf doch nicht wahr sein! Worauf können wir dann noch bauen, wenn so etwas möglich ist? Wie können wir dann noch Boden unter den Füßen haben, auf dem wir stehen können?“ Das Surreale macht uns Angst. Es ist die Angst, keine Basis mehr zu haben, keine Fixpunkte im Leben – nichts, worauf man sich verlassen könnte. 

Vielleicht ist es ja das, was Jesus uns mit dieser Geschichte sagen will: Glaube ist genug da, auch bei euch, die ihr immer wieder zweifelt. Denn es braucht keinen ganz besonders großen oder starken Glauben. Vom Glauben braucht es nicht viel. Es reicht schon eine ganz geringe Menge – so viel wie ein Senfkorn. Denn der Glaube selber ist gar nicht das Problem. Das Problem ist, diesem Glauben zu trauen, sich wirklich auf diesen Glauben einzulassen. Und nicht immer wieder auf die inneren Stimmen reinzufallen, die sagen: „Das wird doch nie was. Da kann ja nicht funktionieren. Das ist doch absurd.“ Das sind die Stimmen der Angst und der Sorge, die unser Leben einengen und einschränken. Glauben aber bedeutet Vertrauen auf das, was wir nicht sehen und was über unsere bisherigen Erfahrungen hinausgeht. Nur in diesem Vertrauen können wir neue, unerwartete Erfahrungen machen. Auch, wenn uns diese neuen Wege zunächst einmal absurd erscheinen, weil sie unseren bisherigen Erfahrungen widersprechen. 
Glauben, das bedeutet: Dass wir es wagen müssen, dem Absurden zu trauen, das nur im Traum geschieht, von dem wir aufwachen und denken: „Das ist absurd!“

Glauben bedeutet also als Leben aus dem, was absurd erscheint. Aber nicht nur Glauben, sondern auch Handeln. Die Jünger sollen den Baum ja auffordern, das Absurde zu tun. Sollen leben mit Hoffnungen, die keinen Anhalt an der Wirklichkeit haben, die andere mit Kopfschütteln hören und sagen: „Was für ein Spinner!“ 

Dieser Glaube ist winzig klein und unscheinbar wie ein Senfkorn. Aber auch das Kleine kann Großes bewirken: Wie ein Sandkorn im Auge, das mich die Augen reiben lässt. Wie Sand im Getriebe dieser Welt. So ist die Frage, die der Glaube an uns stellt: Ist das, was wir für machbar, wirklich die ganze Wirklichkeit? Geht da nicht noch mehr? Kann es nicht sein, dass es doch geht: Dass Frieden möglich wäre und die Hungrigen satt werden können? Dass sich auch mein Leben zum Guten wendet?  Und was mir misslungen ist, ist vielleicht doch ein Teil der Geschichte Gottes, und was ich nicht verstehe, trotzdem sinnvoll? 

„Absurd!“ denkt etwas in mir und schon ist er weg, der Glaube, klein wie ein Senfkorn –ich muss meine to-Dos abarbeiten, und essen müssen wir und einkaufen. Ja, einkaufen und keine Angst haben vor der Pandemie und leeren Regalen, nicht den Wagen vollpacken – und ich müsste den Menschen glauben, die mir versichern, dass die Versorgung weitergeht und auch die Butter wieder da sein wird, die heute aus war. Und, dass jene, die lange schon auf den Zusammenbruch dieses Landes wetten und sich vorbereiten, nicht die Macht bekommen und das Leben meiner Enkel nicht bestimmen werden. 

Nur glauben: Dass der Traum wirklicher sein könnte als alle Sorgen. Der Maulbeerbaum, der bis zu 12 Meter hoch werden kann, durch die Luft fliegt und sich einwurzelt im salzigen Meer und gedeiht und ich leben kann in einer Welt ohne Grund unter den Füßen. Und die Angst wäre weg, die Menschen laut schreien lässt und manchmal aggressiv macht.

Und ich sehe ihn vor mir, Jesus, wie er lächelt über seine ratlosen Freunde, die einem Bild nachsinnen, das sie nicht verstehen. Und der ein bisschen traurig ist, dass sie immer noch so wenig ihre Wirklichkeit hinter sich lassen können, um das Absurde zu wagen in ihrem Denken und Tun. Und denkt an die Träumer: Nelson Mandela, der jahrelange Haft überlebt, ohne sich an seinen Richtern zu rächen. Und an Johann Hinrich Wichern oder Mutter Teresa, die den Kampf aufnehmen, hinschauen in die dunklen Ecken einer Gesellschaft, ohne Geld und ohne Wegweisung. Und die Menschen, die nach Afrika gehen, um gegen die Dürre Mittel zu suchen und Pflanzen pflanzen, wo nichts wachsen kann, und die Jugendlichen, die die Welt verändern wollen, die nicht veränderbar ist. Die alle nicht sagen: Das ist doch absurd, da kann man doch nichts machen, sondern hingehen und das Absurde zu denken wagen.
Und ich spüre sein Lächeln auch über mich, traurig, und doch liebevoll, weil er mir zutraut, dass auch ich das Absurde glauben und tun und leben kann.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

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Gedanken zum Sonntag

13. Sonntag nach Trinitatis

Predigt zum 13. Sonntag nach Trinitatis, 29. August 2021

1.Mose 4, 3-9: Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?

Liebe Mitchristen!

Haben Sie Geschwister? Ich selber komme aus einer großen Familie. Ich bin mit vier Geschwistern aufgewachsen. Wenn die Familie so groß ist, dann brauchen die Eltern Unterstützung, auch von den älteren Kindern. So war es auch bei uns zuhause. Als ältere Schwester war es immer wieder meine Aufgabe, dass ich meine jüngeren Geschwister hüte – vor allem meine kleine Schwester, die 12 Jahre jünger ist als ich. Vielleicht erinnern sich manche von Ihnen daran, dass das bei Ihnen in der Familie auch so war. Manchmal war das richtig gut für mich. Ich konnte mir Geschichten ausdenken für meine kleine Schwester: Märchen von Zwergen, die bei uns unter dem Dachboden wohnten. Und sie hat mir jedes Wort dieser Geschichten geglaubt. Das hat mir gefallen. Manchmal hat es mir aber auch nicht gefallen, auf sie aufpassen zu müssen. Da hätte ich als Jugendliche nachmittags auch gerne etwas Anderes gemacht, als mit meiner kleinen Schwester am Sandkasten zu sitzen. Und ich habe mich gefragt: Muss immer ich auf sie aufpassen? Kann das nicht mal jemand anderes machen? Und wer kümmert sich eigentlich um mich? Wer fragt danach, was ich brauche?

Jeder, der Geschwister hat, kennt solche Gefühle wahrscheinlich. Das Gefühl, dass es die Schwester oder der Bruder irgendwie besser hat als man selber: Der bekommt immer alles, und wo bleibe ich? Eltern versuchen ja immer, gerecht zu sein und ihre Kinder alle gleich zu behandeln und gleich gern zu haben. Aber dieses Gefühl stellt sich trotzdem oft ein, dass man neidisch ist auf die Geschwister, die es scheinbar irgendwie einfacher haben im Leben – ob zuhause bei den Eltern oder in anderen Lebensbereichen: Dem Bruder, dem fällt alles einfach so in den Schoß. Ich dagegen, ich muss mich richtig anstrengen und lernen, damit ich in der Schule halbwegs gute Noten schreibe. Aber der Bruder macht fast nichts für die Schule, trotzdem ist er ein hervorragender Schüler. Später im Leben ist das dann genauso: Da rackere ich mich ab. Ich gebe mir alle Mühe, damit ich beruflich wenigstens ein bisschen vorankomme. Aber der Bruder, der sahnt beruflich voll ab, und das ohne großen Aufwand.

Geschwistergeschichten –jeder der Geschwister hat, hat hier etwas zu erzählen. Auch die Bibel ist voll von Geschwistergeschichten, von Anfang an. Die erste Geschwistergeschichte ist die Geschichte von Kain und Abel. Eine richtig heftige Geschwistergeschichte, denn am Ende ist der Bruder tot. Dabei hatte alles so gut angefangen. Adam und Eva hatten sich so gefreut, als ihr Sohn Kain geboren wurde. Zum ersten Mal haben die Menschen dieses Wunder erleben dürfen, dass Gott ihnen ein Kind schenkt. Adam und Eva verstehen: Nur mit Gottes Hilfe ist das möglich. Dieses Kind ist ein Geschenk von Gott. Auch über ihren zweiten Sohn Abel freuen sie sich so wie über den ersten. Kain ist jetzt kein Einzelkind mehr. Er hat einen jüngeren Bruder. Zusammen wachsen sie als Geschwister auf. Ob Kain wohl öfters auf seinen kleinen Bruder aufpassen musste? „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ sagt er später. Ich stelle mir vor, Kain hat gedacht: Immer dieser Bruder, immer dieser Abel. Immer wird er bevorzugt, und ich muss ihn auch noch hüten.

Kain fühlt sich benachteiligt. Dabei haben sich seine Eltern so gefreut über seine Geburt. Und als er erwachsen ist, findet er einen Beruf, der zu ihm passt und von dem er leben kann. Kain wird ein Bauer, der die Felder bestellt, und sein Bruder Abel wird ein Hirte, der Schafherden hat. So hat jeder sein Auskommen, und sie könnten eigentlich beide glücklich und zufrieden sein. Dankbar feiern sie Gottesdienst und bringen Gott ein Opfer von dem, was er ihnen geschenkt hat: Kain von den Früchten seiner Felder, Abel von den Tieren seiner Herde. Wenn da nur nicht diese Konkurrenz wäre zwischen Kain und Abel. Sogar, wenn die beiden Brüder miteinander Gottesdienst feiern, steht die Frage im Raum: Wer von uns beiden steht hier besser da? Die Frage: Was gefällt Gott besser – die Früchte von meinem Feld, die ich bringe? Oder die Lämmer von deiner Herde, die du bringst? Kain stellt sich diese Frage. Und die Früchte von seinem Feld, die dort auf dem Opferaltar liegen, die kommen ihm auf einmal klein und mickrig vor im Vergleich zu diesen erstklassigen Lämmern, die sein Bruder von seiner Herde mitgebracht hat. So kommt Kain zu dem Ergebnis: Die Opfergaben, die mein Bruder in den Gottesdienst gebracht hat, gefallen Gott besser als das, was ich mitgebracht habe. Warum Kain zu diesem Ergebnis kommt, erfahren wir nicht. Aber wir erfahren, dass Kain sich auf einmal ganz sicher ist: Von mir und meinem Opfer will Gott nichts wissen. Gott sieht mich nicht einmal. Gott merkt wohl gar nicht, dass ich auch noch da bin und hier Gottesdienst feiere. Das kümmert Gott überhaupt nicht. Gott kümmert sich sowieso nur um meinen Bruder, der hier beim Gottesdienst mal wieder ganz groß rauskommt. So denkt Kain, und sein Blick geht zu Boden.

Aber Gott, von dem es kurz zuvor in der Bibel noch heißt, dass er Kains Opfer nicht ansieht – Gott kümmert sich um Kain. Gott redet mit Kain. Er sagt ihm: Pass auf. Du bist jetzt wütend. Pass auf, dass du nicht etwas tust, was du später bereust. Beherrsche dich. Und schau nicht zu Boden. Schau nach oben. Schau zu mir, zu deinem Gott. Das wird dir helfen. Aber Kain lässt sich nicht helfen. Sein Zorn hat ihn im Griff. Kain geht aufs Feld und tötet seinen Bruder Abel. Gott, der alles weiß und gesehen hat, fragt Kain: „Wo ist dein Bruder Abel?“ „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ antwortet Kain patzig. Die Strafe ist beinahe untragbar: „Verflucht seist du auf der Erde. Unstet und flüchtig sollst du sein.“ Kain bricht zusammen: „Meine Strafe ist zu schwer.“ Und dann: Gottes Barmherzigkeit sogar hier, wo der Brudermord ganz offensichtlich ist: „Wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden.“

„Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ fragt Kain, als es längst schon zu spät ist dafür. Ich denke an meine kleine Schwester, die ich gehütet habe, als ich eine Jugendliche war. Längst ist sie eine erwachsene Frau, die selber mitten im Leben steht. Vielleicht hat es ihr auch ein bisschen ins Leben geholfen, dass ich sie gehütet habe damals. Wir brauchen Menschen, die uns hüten, die in uns ihren Bruder oder ihre Schwester sehen. „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Sollen wir die Hüter der Menschen in Afghanistan sein? Lange waren wir es, ja, vielleicht auch zu lange. Nun ging es zu schnell, dass wir dort nicht mehr Hüter sind – mit schrecklichen Folgen für die Menschen, die in diesem Land leben. Dafür stehen wir in der Verantwortung – für Menschen, die wir im Stich gelassen haben, ob dort in Afghanistan oder in unserem eigenen, persönlichen Umfeld. Hüter sollen wir füreinander sein, und im Anderen den Bruder oder die Schwester erkennen. Wenn wir das schaffen, dann hat Gott unter uns schon sein Haus gebaut.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

 

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8. Sonntag nach Trinitatis

Predigt zum 8. Sonntag nach Trinitatis, 25. Juli 2021

Kolosser 3,15-17: Und der Friede Christi, zu dem ihr berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar. Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.

Liebe Mitchristen!

Stellen Sie sich vor, Sie sind beim Gottesdienst im Grünen. Viele Menschen sind gekommen. Auch die Mitarbeiter der Kirchengemeinde sind da. Bei diesem Gottesdienst begegnen Sie Herrn Froh und Herrn Mies und hören das folgende Gespräch.

Herr Froh: Das ist ja klasse hier – ein Gottesdienst im Grünen, ganz im Freien in der Natur! Ich freue mich, dass wir heute miteinander feiern können. Und Musik ist auch da – schau mal die Bläser! Das hat ja richtig schön geklungen, vorher der Gesang. Da kriege ich gleich Lust zum Mitsingen! Singt Gott dankbar in euren Herzen, steht in der Bibel. Das will ich heute machen, aus vollem Herzen. Was für ein schöner Sonntagmorgen! Danke, lieber Gott!

Herr Mies: Oh, komm hör doch auf. Mit Mundschutz macht das Singen sowieso keinen Spaß. Scheiß Corona, das nimmt ja auch kein Ende. Und außerdem ist schlechtes Wetter heute. Und wir sind hier im Freien. Bestimmt fängt es gleich an zu regnen, und dann werden alle total nass. Dann ist aber ganz schnell Schluss mit lustig.

Herr Froh: Ach, das bisschen Regen. Wir sind doch nicht aus Zucker. Und vielleicht hält das Wetter sogar. Denk doch mal an die Menschen in den Hochwassergebieten in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Die haben alles verloren. Wir haben ein Dach über dem Kopf. Wir sind am Leben, und haben alles, was wir zum Leben brauchen. Ich bin dankbar. Ich freue mich, dass wir wieder singen dürfen. Auch wenn es mit Mundschutz ist.

Herr Mies: Ja, komisch, dass so viele da sind. Denen macht das wohl nichts aus, mit Mundschutz zu singen. Und in Teilnehmerlisten müssen die sich auch noch eintragen. Also, für mich wäre das nichts. Sag mal – weißt du, warum die hier heute alle gekommen sind bei dem schlechten Wetter? Was sind das denn für Leute?

Herr Froh: Ja, Wahnsinn, du hast Recht. Das sind richtig viele, die heute da sind. Du, ich weiß, was das für Leute sind: Das sind die Leute von der Evangelischen Kirchengemeinde Wehingen. Und auch die ganzen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von der Kirchengemeinde.

Herr Mies: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – das klingt ja echt nach Arbeit! O je, die Armen, das ist bestimmt anstrengend, was die alles machen. Wenn ich schon allein daran denke, dass jemand die ganzen Bierbänke hier hochgeschleppt haben muss. Und der Posaunenchor mit den vielen Proben, und die Technik mit den Lautsprechern – bis das alles klappt!

Herr Froh: Ja, super, dass diese Leute alle da sind und das machen! Und in noch viel mehr Bereichen sind die tätig in der Gemeinde: In der Verwaltung und Gemeindeleitung, im Kindergarten, im Besuchsdienst, und noch viel, viel mehr!

Herr Mies: Ist ja unglaublich, was die hier alles machen in der Gemeinde. Sogar einen Kindergarten haben die. Wusste ich gar nicht. Warum machen die das bloß alles.

Herr Froh: Das haben wir doch vorher in der Bibel gehört: Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit.

Herr Mies: Du, weißt du, ich denke, das ist mir alles zu hoch: Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen. Und Ermahnung, das klingt so streng. Mit der Schule bin ich auch schon lange fertig. Wozu brauche ich da noch jemanden, der mich lehrt? Auch wenn ich mit meiner Weisheit manchmal am Ende bin – ich will mir nicht von anderen was vorschreiben lassen.

Herr Froh: Aber darum geht es doch gar nicht, dass dir andere was vorschreiben wollen. Alle zusammen sollen wir das machen und uns gegenseitig unterstützen. Ich jedenfalls kann immer mal einen guten Rat gebrauchen, wenn ich nicht mehr weiter weiß. Da bin ich wirklich von Herzen dankbar.

Herr Mies: Ja, danke von Herzen! Das soll hier wohl das Thema sein. Aber ich weiß nicht. Ich denke doch, dass die hier auch nicht immer nur dankbar sind. Bestimmt sind die auch mal frustriert, und es gibt Meinungsverschiedenheiten.

Herr Froh: Ja, klar, da hast du bestimmt Recht. Aber das gehört doch auch dazu zum Leben. Deswegen heißt es in dem Bibeltext ja: Und der Friede Christi, zu dem ihr berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar.

Herr Mies: Du, weißt Du, ich kann diese Bibelsprache nicht so gut verstehen. Was heißt das nun schon wieder: In einem Leibe?

Herr Froh: Das heißt, dass wir alle zu Jesus gehören. Jesus verbindet uns alle zu einer Gemeinde. Jeder hat seine Aufgabe in der Gemeinde. Wie die einzelnen Körperteile an einem Körper verschiedene Aufgaben haben. Aber es ist ein Körper, ein Leib.

Herr Mies: Schöne Idee. Aber wie gesagt: Ich denke, dass es bestimmt trotzdem auch mal Meinungsverschiedenheiten gibt.

Herr Froh: Ja, genau, das wollte ich ja vorher sagen: Deswegen steht in dem Bibeltext ja: Der Friede Christi. Jesus Christus hilft uns, dass wir uns trotz verschiedener Meinungen zuhören und verstehen. Dann können wir eine gemeinsame Lösung für unser Problem finden.

Herr Mies: Das überzeugt mich schon eher. Solche Leute hätte ich gerne auch um mich. Die nicht gleich sagen: So muss es sein, sondern die miteinander reden und dann einen Weg finden, wie es gehen kann. Nicht schlecht, nicht schlecht. Aber du, sag mal: Was machen die eigentlich die ganze Zeit in ihrer Gemeinde? Es hört sich jetzt ja gerade so an, als würden die da die ganze Zeit nur reden und reden und reden! Worte sind ja schön und gut. Aber ich finde, manchmal müssen doch auch Taten her.

Herr Froh: Ja, aber auf jeden Fall! Da hast du total Recht. Und das machen die hier ja auch. Die stellen hier echt was auf die Beine. Die können auch anpacken. Damit es nicht nur bei Worten bleibt. Damit dann auch Taten folgen. Da gibt es wirklich auch richtig tatkräftige Leute hier, die mit anpacken, wo es nötig ist. Gott sei Dank ist das so. Denn so soll es ja sein. Wie es in unserem Bibeltext heißt: Alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott dem Vater durch ihn.

Herr Mies: Mit Werken, also auch mit Taten. Du, ich überleg mir das nochmal. Vielleicht ist der Tag heute doch nicht so schlecht, und dieser Gottesdienst und der Zusammenhalt in der Gemeinde, da kriege ich jetzt auch Lust darauf. Gott sei Dank!

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

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7. Sonntag nach Trinitatis

1. Kön 17, 2-16: Danach kam das Wort des Herrn zu Elija: »Geh weg von hier in Richtung Osten! Versteck dich am Bach Kerit, der in den Jordan fließt! Aus dem Bach kannst du trinken. Den Raben habe ich befohlen, dich dort zu versorgen.« Da ging er los und tat, was der Herr befohlen hatte. Morgens und abends brachten Raben ihm Brot und Fleisch. Aber nach einiger Zeit trocknete der Bach aus, denn es gab keinen Regen im Land. Da kam das Wort des Herrn zu Elija: »Auf, geh nach Sarepta, das bei Sidon liegt! Denn ich habe einer Witwe befohlen, dich dort zu versorgen.« Da machte sich Elija nach Sarepta auf. Als er an das Stadttor kam, war dort eine Witwe, die Holz auflas. Elija sprach sie an und sagte: »Hol mir doch bitte einen kleinen Krug mit Wasser.« Als sie wegging, um es zu holen, rief er ihr nach: »Bring mir doch bitte auch ein Stück Brot mit.« Da antwortete sie: »So gewiss der Herr, dein Gott, lebt! Ich habe überhaupt keine Vorräte mehr. Nur noch eine Handvoll Mehl ist im Krug und etwas Öl in der Kanne. Ich wollte gerade ein paar Hölzchen sammeln, wieder heimgehen und etwas aus den Resten backen. Mein Sohn und ich wollten noch einmal etwas essen und danach sterben.« Da sprach Elija: »Fürchte dich nicht! Geh nur und tu, was du gesagt hast. Aber mach zuerst für mich ein kleines Brot und bring es zu mir heraus. Danach kannst du für dich und deinem Sohn etwas backen. Denn so spricht der Herr, der Gott Israels: Der Mehlkrug wird nicht leer werden, und die Ölkanne wird nicht versiegen. Das wird so bleiben bis zu dem Tag, an dem der Herr wieder Regen schenkt und es auf den Ackerboden regnen wird.« Sie ging los und tat, was Elija gesagt hatte. Und tatsächlich hatten sie alle drei zu essen: Elija, die Frau und ihr Sohn, Tag für Tag. Der Mehlkrug wurde nicht leer und die Ölkanne versiegte nicht.

Liebe Mitchristen!

Es ist schön, dass wir im Gottesdienst wieder miteinander singen können. Es tut einfach gut. Mit unseren Liedern loben wir Gott und danken ihm für alles Gute, das Gott uns schenkt. So wie es Paul Gerhard in dem Lied „Ich singe dir mit Herz und Mund“ auf den Punkt bringt: Gott schützt uns, Gott wärmt uns. Gott sorgt dafür, dass wir zu Essen haben und in Frieden leben können. Wir haben alles, was wir zum Leben brauchen – Gott sei Dank! Und wie wenig selbstverständlich ist das alles.

Ich denke an die Menschen in den Hochwassergebieten in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Es erschreckt mich, wie viele Menschen ihr Leben verloren haben. Und wie viele Menschen nur ihr nacktes Leben retten konnten, und jetzt buchstäblich vor dem Nichts stehen. Der Klimawandel und seine dramatischen Folgen stehen mir da auf einen Schlag ganz drastisch vor Augen – und auch die Aufgabe, die wir haben: Gott hat uns diese Erde anvertraut. Dass sie bewohnbar bleibt, auch für unsere Kinder und Enkel, dafür braucht es unseren vollen Einsatz.

Unsere Erde ist zerbrechlich und braucht unseren Schutz. Auch unser Leben ist zerbrechlich. Manchmal geht es einfach nicht mehr weiter ohne Hilfe von außen. So wie die Menschen in den Hochwassergebieten es jetzt erleben müssen. Ein Mann sitzt auf seinem Autodach, sein Auto ist fast schon in den ungeheuren Wasserfluten verschwunden. Da kommt das Boot der Feuerwehr und rettet ihn – gerade noch rechtzeitig. Ohne Hilfe von außen hätte dieser Mann sein Leben verloren.

Auch der Prophet Elia hat das am eigenen Leib erlebt: Ohne Hilfe von außen geht es einfach nicht mehr weiter, habe ich keine Überlebenschance. Die Katastrophe, die dieser biblische Prophet erleben musste, war eine große Dürre. Alles ist vertrocknet auf den Feldern, und es gab nichts mehr zu essen. Elia bekommt Hilfe von in dieser lebensbedrohlichen Situation. Gott schickt ihm Hilfe. Elia erlebt: Auch diese Hilfe, die Gott schickt, ist zerbrechlich. Gott schickt ihm Raben, die ihn mit Essen versorgen. Raben sind eigentlich keine besonders zuverlässigen Essenslieferanten, und auch keine besonders appetitlichen: Schmutzige, schwarze Vögel, die auch Aas fressen. Aber die Versorgung funktioniert – zumindest eine Zeitlang. Denn die große Dürrekatastrophe lässt sich nicht aufhalten. Der Wassermangel wird immer größer. Auch der Bach, aus dem Elia trinkt, vertrocknet nach einer Zeit.

Gott muss sich etwas Anderes ausdenken, damit Elia nicht verhungert und verdurstet. Gott schickt seinen Propheten weiter. 5 Tagereisen weit entfernt ist seine nächste Station, in einem fremden Land. Und ausgerechnet zu einer Witwe soll Elia da gehen. Eine Witwe – die hatte doch selber nichts. Es gab ja keine soziale Absicherung damals. Und noch dazu hatte diese Witwe noch einen Sohn zu versorgen. Die Hilfe, die Gott schickt, ist zerbrechlich. Es hätte auch schiefgehen können. Die Witwe hätte auch Nein sagen können. Und der weite Weg vom vertrockneten Bach bis nach Sarepta war eigentlich kaum zu schaffen.

Elia hat den Weg geschafft, und die Witwe hat nicht Nein gesagt. Die Witwe war mutig. Sie hat diesem ausländischen Propheten ihren letzten Bissen Brot gegeben. Dabei redet dieser fremde Mann, als ob er vor Hunger schon verrückt geworden wäre. Er sagt der Witwe: Wenn du mir aus deinen letzten Vorräten ein Brot bäckst, dann wird danach immer noch genug zu Essen da sein für deinen Sohn und dich. Das klingt wenig überzeugend, wenn das ein dahergelaufenener Fremder zu einem sagt. War es der Mut der Verzweiflung, dass die Witwe dem Propheten zu Essen gegeben hat? Vielleicht hat er ja Recht, könnte sie gedacht haben. Einen Versuch ist es jedenfalls wert. Was habe ich schon zu verlieren. Ob mein Sohn und ich schon heute nichts mehr zu Essen haben oder erst morgen – was ändert das noch an unserem Schicksal? Jedenfalls hat die Witwe es gewagt. Sie hat Elia vertraut und hat ihn versorgt. Sie hat es erleben dürfen: Das Essen reicht für uns alle. Wir müssen nicht verhungern. Ein Wunder, etwas Unerklärliches ist geschehen. Ein Grund zur Freude und zum Dank. Vielleicht hat sie auch ein fröhliches Lied angestimmt, so wie das Lied „Ich singe dir mit Herz und Mund“?

Paul Gerhard hat dieses fröhliche Lied gedichtet. Ein Danklied an Gott, der uns gibt, was wir zum Leben brauchen. Man könnte meinen, das Lied stammt aus guten und sicheren Zeiten, wo die Menschen und auch dieser Liederdichter gut versorgt waren und das alles immer so erleben konnten, wie es in dem Lied besungen wird: Dass Gott den Menschen Schutz und Wärme gibt. Dass Gott für die Menschen sorgt, so dass sie genug zu Essen haben und in Frieden leben können. Aber so einfach und unbeschwert war das Leben nicht – damals in der Zeit, in der Paul Gerhardt lebte.

Paul Gerhardt musste selbst so viel Elend erleben, schon allein bis zum Jahr 1653, als er das Lied „Ich singe dir mit Herz und Mund“ schrieb. Die Eltern hat er früh verloren, die Pest und den Krieg hat er gesehen – grausam und unerbittlich. Er hatte erleben müssen, wie täglich tausende Menschen an Hunger sterben. Die grausamen Bilder des Dreißigjährigen Krieges und des schwarzen Todes standen ihm immer vor Augen. Auch in seiner eigenen Familie hat er schon viele seiner Lieben verloren. Und in seiner Arbeit als Pfarrer erlebt er noch viel mehr Not und Elend bei den Menschen in seiner Gemeinde.

Ausgerechnet dieser Pfarrer, der so viel Schweres erleben musste, wird zum Liederdichter – und seine Liedtexte rühren bis heute unser Herz an, so dass wir diese Lieder bis heute gerne und aus vollem Herzen singen: Ich singe dir mit Herz und Mund. Paul Gerhardt erinnert uns an das, was wirklich trägt im Leben: Gott, die ewige Quelle, der Brunnen der Gnade. Mit diesem Gottvertrauen dürfen wir durch unser Leben gehen, gerade auch in schwierigen Zeiten. Auch, wenn wir nicht wissen, was morgen kommt. Auch, wenn die Klimaveränderung, deren katastrophale Folgen wir jetzt spüren, uns Angst macht. Auch wenn die lange Corona-Zeit, in der so wenig an menschlichen Begegnungen möglich war, bei uns ihre Spuren hinterlassen hat. Wir dürfen auf Gott vertrauen. So wie die Witwe in der biblischen Geschichte, die selber nicht einmal das Lebensnotwendige hatte, und doch auf die Worte des Propheten Elia vertrauen konnte. So wie Paul Gerhardt in seinem Lied dichtet: „Du füllst des Lebens Mangel aus mit dem, was ewig steht, und führst uns in des Himmels Haus, wenn uns die Erd entgeht.“ Wir dürfen auf Gott vertrauen – auch und gerade in schwierigen Zeiten. Auch und gerade, wenn wir uns Sorgen machen, wenn das, was wir zum Leben brauchen, nicht einfach selbstverständlich da ist. Und wenn wir dieses Gottvertrauen haben, dann öffnet sich unser Herz. Dann können wir das, was wir haben, auch noch mit anderen teilen, und es reicht für uns alle.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

 

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6. Sonntag nach Trinitatis

Predigt vom 6. Sonntag nach Trinitatis (Pfr. M. Arnold)

Liebe Gemeinde,

alle Gemeinden haben eines gemeinsam: Sie sind Gemeinde! Und in jeder Gemeinde gibt es Dinge, die gut laufen und Dinge, die völlig daneben gehen.

Und immer wieder geht es um die großen Fragen: Wie geht es weiter? Wofür werden in der Gemeinde Herzblut, Zeit, Geld und Gaben investiert? Wo Schwerpunkte gesetzt? Welche Menschen können wir gewinnen? Wie kann Leidenschaft und Freude für das entstehen, was wir zusammen tun? Warum tun wir, was wir tun?

Genau darum soll es heute gehen: Warum tun wir, was wir tun? Warum tun wir es in den guten und schlechten Tagen? Warum werden wir es in Zukunft tun – mit aller Leidenschaft und Freude?

Ich lese Ihnen vor, was Jesus im Sinn hatte, als er so etwas wie Gemeinde ins Leben gerufen hat, was er nach Ostern und vor seinem Abschied von seinen Freunden zu ihnen sagt – das ist der Predigttext für heute (Mt 28,18f):

Die elf Jünger gingen nach Galiläa. Sie stiegen auf den Berg, wohin Jesus sie bestellt hatte. Als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder. Aber einige hatten auch Zweifel. Jesus kam zu ihnen und sagte: „Gott hat mir alle Macht gegeben, im Himmel und auf der Erde! Geht nun hin zu allen Völkern und macht die Menschen zu meinen Jüngerinnen und Jüngern: Tauft sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Und lehrt sie, alles zu tun, was ich euch geboten habe. Und seht doch: Ich bin immer bei euch, jeden Tag, bis zum Ende der Welt!“ (BasisBibel)

Das Wort „Jünger“, auf Griechisch mathetäs, das heißt so viel wie „Schüler“ oder „Lehrling“ und kommt 269 mal im Neuen Testament vor. Das Neue Testament ist ein Buch von Jüngern über das Leben von Jüngern. Geschrieben für Jünger und für solche, die es werden sollen und wollen. Und der Auftrag an die Zwölf lautet: „Macht zu Jüngern!“ – oder anders formuliert: „Helft Menschen, Jünger zu werden. Geht auf Menschen zu und erzählt ihnen vom Leben als Jünger. Tut alles, damit Menschen Lust darauf bekommen, Jünger zu werden. Gewinnt möglichst viele für ein Leben als Jünger!“ Am Anfang des Evangeliums sagt Jesus zu einer guten Handvoll Menschen: „Werdet meine Jünger, folgt mir nach!“ Und am Ende des Evangeliums sagt Jesus zu diesem kleinen Kreis von Menschen: „Zieht die Kreise immer wieder! Alle sollen werden können, was ihr seid: Jünger!

 

Lebendige und erfolgreiche Unternehmungen auf dieser Welt haben ein WARUM – und weil sie ein WARUM haben, haben sie ein WAS und ein WIE. Es geht niemals andersrum! Apple ist heute nicht eine der erfolgreichsten Firmen weltweit, weil Steve Jobs gesagt hat: Wir machen Computer und andere Geräte – und wir machen das so und so. Nein: Apple ist erfolgreich, weil Steve Jobs eine Vision hatte! Die Vision, dass Menschen auf der ganzen Welt miteinander verbunden sein sollen, dass alle überall Zugang zu Informationen, zu Bildung und zu Unterhaltung haben sollen – und das alles möglichst einfach! Er hatte ein WARUM, und deshalb ein WAS und ein WIE! Wenn wir nur ein WAS haben, wenn wir sagen: „Wir machen da so Veranstaltungen in der Kirche und wir bieten was für Kinder an und organisieren manchmal nebenher noch Aktionen„, wird uns die Luft wegbleiben und Freude und Leidenschaft werden schrumpfen. Warum sollten wir das tun – ohne ein WARUM?

Unser WARUM heißt: Wir wollen lebendige, mündige Nachfolger von Jesus sein, Jüngerinnen und Jünger – und wir wollen andere gewinnen, dass sie auch Jüngerinnen und Jünger werden. WARUM? Weil es das Beste ist, was Menschen auf dieser Welt angeboten wird. WARUM? Weil es stimmt, was ein großer Prediger einmal gesagt hat: „Es gibt kein Problem im menschlichen Leben, das in der Schule von Jesus nicht gelöst werden könnte.“ Furcht, Gier, Rassismus, Hunger, Gewalt, Einsamkeit, Schuld, Tod, Leiden. Das schließt sogar die Vergebung meiner Schuld, die Versöhnung nach langem Streit, die Befreiung von Abhängigkeiten, den Mut zu neuen Schritten und die Hoffnung über den Tod hinaus ein.

 

Wie lebt ein Jünger? Ich habe versucht, ein paar Merkmale eines Jüngers herauszufinden. Herausgekommen sind fünf Dinge:

1) Ein Jünger lernt bei Jesus, wie das Leben funktioniert! Dadurch verändert sich sein Leben. In der Bergpredigt steht eine ganze Menge darüber, wie „Leben“ geht: ohne Sorge, ohne Hass und Arroganz, mit offenem Herzen und großzügiger Hand für Arme, mit natürlicher Frömmigkeit. Ein Jünger lernt bei Jesus, wie das Leben funktioniert.

2) Ein Jünger wird deshalb Jesus mehr lieben als jeden und alles andere! Je tiefer wir verstehen, was für ein Vorrecht es ist, mit Jesus unterwegs zu sein, desto tiefer wird unsere Liebe zu Jesus. Dann ordnen sich alle anderen Beziehungen dahinter ein. Und es tut gut – es tut gut, wenn nicht meine Ehepartnerin oder mein Freund mein Herr und Heiland sein muss. Es tut gut, wenn mein Geld nur ein Mittel ist und Jesus den Umgang mit dem Geld steuert.

3) Ein Jünger wird sich von Jesus an die Arbeit stellen lassen. Jesus hat seine Jünger eine ganze Weile zuhören und zuschauen lassen. Und dann hat er gesagt: „Jetzt seid ihr dran! Jetzt dürft ihr meine Arbeit in eurer kleinen Welt tun. Heilen und vergeben, trösten und herausfordern, mahnen und erklären. Jetzt seid ihr dran.“ Dann können wir spüren, wie unser Leben reich wird, wenn unser Leben seinem WARUM dient!

4) Ein Jünger ist nicht allein! Ein Jünger hat immer andere – und zwar ganz bestimmte andere, mit denen er zusammen Jünger ist. Jesus hat seine Jünger auch als Gemeinschaft geformt, die Menschen in seiner Gruppe hätten sonst nie zusammengefunden. Sie waren füreinander nicht nur Freunde, sondern eine Zumutung und eine Herausforderung! Aber Jesus will das so: dass wir verlässliche Weggefährten in der Gemeinde der Jünger werden.

5) Einen Jünger lässt Jesus nicht im Stich. Als ich die Geschichte Jesu für diese Predigt noch einmal durchgelesen habe, habe ich so manches Mal den Kopf geschüttelt. Die Jünger bekommen es nicht geregelt, sind völlig schief gewickelt, enttäuschen Jesus, lassen ihn im Stich, sind mir ihren eigenen Projekten beschäftigt, verstehen ihn falsch – und Jesus wirft sie trotzdem nicht raus! Noch am Ende und allem, was sie erlebt haben: „etliche zweifelten!“ Was für eine Gruppe! Und Jesus entlässt sie nicht. Er hält zu ihnen, er bleibt den Treulosen treu. Er fängt wieder von vorne mit ihnen an. Er kann nicht anders – und er will nicht anders. Und davon leben Jünger! Es geht hier nie um die Kraft und Kompetenz der JÜNGER, es geht immer um die Kraft und Kompetenz von JESUS! Und der gibt am Ende ein Versprechen ab: „Ich bin bei euch – immer und überall, und bis zum Ende!

 

Darum geht es in der Gemeinde: Um dieses Bekenntnis im Leben. Ein Jünger ist der, der es als höchstes Ziel hat, sein Leben so zu leben, wie Jesus es leben würde. Darum geht es! Unser WARUM ist die Erkundung von so einem Leben: an der Hand von Jesus leben lernen. Und unser WARUM ist die Einladung an Menschen, die uns etwas bedeuten: Komm und lerne mit mir an der Hand von Jesus zu leben.

Das Handwerk, das der Lehrling hier lernt, ist das Leben. Die Schule, in die wir als Schüler von Jesus gehen, ist das Leben, wie es gelingen kann. Und es gibt kein irdisches Problem, dass in der Schule von Jesus nicht gelöst werden kann. Wir bitten Jesus, dass wir bei ihm sein dürfen um von ihm zu lernen, wie er zu leben. Das gilt bei allem, was wir tun! Wie kann ich mit Jesus Schüler sein? Oder Mutter oder Vater? Wie kann ich mit Jesus studieren oder arbeiten? Wie kann ich mit Jesus treu und verbindlich leben? Was würde er tun, wenn er an meiner Stelle ist? Und was möchte er tun, weil er ja mit mir an meiner Stelle ist?

 

Jeder Mensch wird Jünger von irgendjemand. Irgendwem folgen wir immer. Es ist nur die Frage, WEM wir folgen, nicht OB wir folgen. Und es ist die Frage, ob der, dem wir folgen, guttut, aufbaut, entfaltet, zum Blühen bringt, durch Täler führt, im Versagen aufrichtet und durch den Tod hindurch rettet. Das ist die Frage – und bei Jesus ist sie beantwortet. Deshalb gibt es nichts Größeres, als sich in der Schule von Jesus anzumelden, die Lehre des Lebens bei ihm zu beginnen und sein Jünger zu werden. Unser WARUM ist es, diese Möglichkeit möglichst niemandem vorzuenthalten. Wir können bei denen beginnen, die direkt um uns herum sind. Was Gemeinde veranstaltet, ist Mittel zum Zweck – pures Mittel und niemals der Zweck. So schön eine Jungschar, eine Posaunenchorprobe oder ein Gottesdienst sein kann – das ist nur das WAS und das WIE, es ist nicht das WARUM. Aber es ist als Wie und Was unsere Hingabe und unseren Einsatz wert!

Und dass wir uns und unser WARUM nicht loslassen. Jesus erinnert uns, dass es unser Auftrag ist, neue Jüngerinnen und Jünger zu finden und er fragt heute: „Willst du dich senden lassen? Willst du dich auf den Weg machen?“ Und es ist die Frage an jeden, ob wir antworten: „Hier bin ich, sende mich!

Amen.

 

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Gedanken zum Sonntag

5. Sonntag nach Trinitatis

Predigt zum 5. Sonntag nach Trinitatis, 4. Juli 2021

1. Korinther 1,18-25: Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es Gottes Kraft. Denn es steht geschrieben (Jesaja 29,14): „Ich will zunichtemachen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.“ Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weisen dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? Denn weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die da glauben. Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind.

 

Liebe Mitchristen!

Was gibt mir Orientierung im Leben? Wie schaffe ich es, die richtigen Entscheidungen zu treffen für mich? Das Leben liegt vor mir wie eine weite Landschaft, die von einem Ende des Horizonts bis zum anderen reicht oder wie ein großes und weites Meer. Wo finde ich da einen Orientierungspunkt, um meinen Weg zu finden? In der Landschaft gibt es solche Orientierungspunkte oft: Da gibt es die Berge, die ich kenne, oder die Türme der nächsten Stadt. Wenn ich diese Orientierungspunkte sehe, dann weiß ich, in welche Richtung ich weitergehen muss.

Auch für mein Leben brauche ich solche Orientierungspunkte, damit ich meinen Weg durchs Leben finde und mich nicht verirre.  Ich brauche so etwas wie einen Berg oder wie einen Turm, der aus der Landschaft herausragt. Etwas Festes und zugleich Vertrautes. Etwas, das meinem Leben Richtung und Halt gibt. Gottes Kraft ist für mich ein solcher Orientierungspunkt – die Kraft von Gottes Liebe, die Gott ins Leben und in diese Welt hineinlegt. Ich kann sie nicht sehen wie den Berg oder den Turm in der Ferne. Aber ich kann sie spüren. Auf diese Gotteskraft zu vertrauen, das gibt mir Halt für mein Leben. Ich weiß, ich bin nicht allein, wenn ich meine Entscheidungen treffe. Da ist jemand für mich da – Jesus Christus. Und auch wenn ich mal falsch liege mit meinen Entscheidungen, macht er mich deswegen nicht fertig. Er verzeiht mir und gibt mir neuen Lebensmut. Denn er ist am Kreuz für mich gestorben.

Für viele Menschen auf der ganzen Welt ist Jesus Christus dieser Orientierungspunkt in ihrem Leben. Aber immer wieder begegnen uns auch Menschen, die sagen: Das ist alles Unsinn. Wenn da einer am Kreuz gestorben ist, elend und schwach – wie soll ausgerechnet durch ihn Gottes Kraft bei mir ankommen? Menschen, die so fragen, gibt es nicht erst heute in unserer Zeit. Es gab sie schon von Anfang an, schon in den ersten Jahren der Christenheit. Der Apostel Paulus erzählt davon in unserem Predigttext. Er kennt Menschen, die sagen: „Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit.“ Ich finde es wichtig, dass wir diese Frage ernst nehmen. Vielleicht geht es uns ja manchmal auch selber so, dass unser Glaube an Gott nicht mehr so fest steht wie der Turm in der Ferne oder so unverrückbar wie der Berg am Horizont. Viele Gründe kann es dafür geben. Manchmal sind es schwere Zeiten im Leben, die uns an Gott zweifeln lassen. Oder es passiert einfach, weil wir älter und erwachsener werden, dass sich auch unser Glaube an Gott dadurch verändert und ins Wanken gerät. So wie das Leben Höhen und Tiefen hat, so ist es auch mit dem Glauben.

ich möchte dazu einladen, dranzubleiben am Glauben und nicht aufzuhören nach Gott zu fragen. Denn wir alle brauchen einen Orientierungspunkt, um unseren Weg durchs Leben zu finden. Gottes Kraft, die mich durchs Leben trägt, kann ich nicht sehen. Aber ich sehe die Menschen, die mit dieser Gotteskraft durch ihr Leben gehen – vom Anfang der Christenheit bis in unsere Zeit. Ich denke an den Apostel Paulus, der die Geschichte mit Jesus anfangs selber für Unsinn gehalten hat. Er hat die Christen verfolgt. Aber dann hat er die Kraft von Jesus am eigenen Leib erfahren.  Der Apostel Paulus hat Jesus nicht als lebenden Menschen gekannt. Aber er ist dieser Kraft, ist Jesus begegnet – in einer Vision. Das hat sein Leben verändert und neu ausgerichtet. Das hat ihm seinen Weg gezeigt.

Es tut mir gut, wenn ich von solchen Menschen weiß, die aus der Kraft von Jesus leben – damals wie heute. Ich kann mich orientieren an dem Vertrauen von Glaubenden neben und vor mir. Das hilft mir, wenn ich selber in meinem Leben den Orientierungspunkt nicht mehr finde. In der Gemeinschaft der Glaubenden finde ich neue Kraft. Und Jesus Christus hat es uns versprochen: Ich bin immer bei euch, wenn ihr in meinem Namen zusammenkommt. Für mich ist das kein Unsinn. Auch wenn ich es nicht sehen kann, dass Jesus Christus da ist, wenn wir zusammenkommen und Gottesdienst feiern. Aber spüren kann ich es: Jesus Christus ist da. Ich spüre das vor allem auch im Abendmahl. Auch wenn es nur ein Bissen Brot ist und ein Schluck Traubensaft. Da steckt die ganze Geschichte drin von Jesus. Die Geschichte von seiner bedingungslosen Liebe zu uns Menschen: Liebe, die stärker ist als alle menschliche Brutalität. Liebe, die stärker ist als der Tod. Und wenn wir im Abendmahl miteinander Gemeinschaft haben, dann wird diese Geschichte lebendig – hier, jetzt und heute. Dann leben wir diese Liebe, die Jesus uns vorgelebt hat, und er ist mittendrin. Und alles, was uns voneinander trennt, aller Streit und alle Verbitterung – das alles hat dann keinen Platz mehr. Gottes Kraft wird spürbar, auch für mich. Nehmen wir diese Erfahrung mit als Orientierungspunkt für unser Leben: Gottes Kraft begleitet mich und gibt meinem Leben Richtung und Halt.

Amen.