Kategorien
Gedanken zum Sonntag

Reminiscere

Predigt zum Sonntag Reminiszere, 13. März 2022

Matthäus 26, 36-46: Da kam Jesus mit ihnen zu einem Garten, der hieß Gethsemane, und sprach zu den Jüngern: Setzt euch hierher, solange ich dorthin gehe und bete. Und er nahm mit sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen. Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wachet mit mir! Und er ging ein wenig weiter, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst! Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach. Zum zweiten Mal ging er wieder hin, betete und sprach: Mein Vater, ist’s nicht möglich, dass dieser Kelch vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille! Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voller Schlaf. Und er ließ sie und ging wieder hin und betete zum dritten Mal und redete abermals dieselben Worte. Dann kam er zu den Jüngern und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn in die Hände der Sünder überantwortet wird. Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät.

Liebe Mitchristen!

Manchmal möchte ich auch einfach einschlafen, so wie die drei Jünger im Garten Gethsemane. Einfach die Augen schließen und die Realität ausblenden. Mich einfach mal wegbeamen aus dieser Welt voller Krieg und Angst, und eintauche in die heile Welt der Träume. Manchmal ist mir einfach alles zu viel. Ich lasse den Fernseher ausgeschaltet, weil ich die schlechten Nachrichten aus der Ukraine nicht mehr hören kann und die schrecklichen Bilder aus dem Kriegsgebiet nicht mehr ertrage.

Jesus hatte nur seine engsten Vertrauten mitgenommen in den Garten Gethsemane. Petrus, Johannes und Jakobus waren von Anfang an mit ihm unterwegs gewesen. Jesus braucht jetzt diese drei Freunde. Sonst hatte er sich immer ganz allein zum Beten zurückgezogen. Er brauchte die Ruhe und Abgeschiedenheit für das Gespräch mit seinem himmlischen Vater. Aber an diesem letzten Abend vor seinem Tod ist es anders. Zu bedrückt ist Jesus, zu aufgewühlt. Zu groß ist seine Angst vor dem, was ihm bevorsteht. Werden seine Freunde ihm beistehen können in dieser Not?

„Freunde in der Not gehen tausend auf ein Lot,“ sagt ein altes Sprichwort. Viele Menschen haben diese schmerzliche Erfahrung schon machen müssen. „Von meinen Freunden hat keiner angerufen, als meine Frau so plötzlich verstorben ist,“ erzählt mir ein Mann. „Manchmal habe ich sogar den Eindruck, die Nachbarn wechseln die Straßenseite, wenn sie mich sehen.“ Der unerwartete Tod seiner Frau hat diesen Mann sehr verletzlich gemacht. Dass seine Freunde und Nachbarn ihn offenbar meiden, trifft ihn deswegen besonders hart. vielleicht sind seine Freunde und Nachbarn einfach nur unsicher, wie sie sich ihm gegenüber jetzt verhalten sollen. Sie wollen nichts Falsches tun oder sagen und tun deswegen lieber gar nichts. Aber das ist sicherlich das Falscheste, was sie tun können. Ihr Freund und Nachbar fühlt sich von ihnen im Stich gelassen.

So wie Jesus sich von seinen drei Freunden im Stich gelassen fühlt: „Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?“ fragt er Petrus, Johannes und Jakobus. Die drei konnten es nicht. Dabei haben sie schon so viel mit Jesus erlebt. Gebannt haben sie seinen gewaltigen Predigten gelauscht: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Selig sind, die Frieden stiften, denn wie werden Gottes Kinder heißen.“ Einmal wird alles gut werden. Einmal wird wirklich Frieden werden, Frieden für alle. Krieg und Leid werden für immer vorbei sein. Davon hatte Jesus gesprochen, immer wieder, voller Überzeugung, voller Begeisterung. Und seine Begeisterung war ansteckend. Seine Begeisterung hat sie, die Jünger, mitgerissen. Mit dieser Begeisterung im Herzen konnten sie alles ertragen, was das harte Leben unterwegs mit Jesus ihnen auferlegte: Hunger, Armut und die kalten Nächte unter freiem Himmel, wenn sie mal wieder kein Nachtquartier gefunden hatten. Die Jünger wussten ja: Wenn Jesus da war, dann wird alles gut. Immer wieder haben sie das so erlebt. Kranke hat Jesus geheilt und Hungrigen zu essen gegeben. Und als das Boot der Jünger zu kentern drohte bei diesem schrecklichen Sturm auf dem See Genezareth, da hat Jesus ihnen das Leben gerettet.

Aber da, was sie jetzt erlebten mit Jesus hier im Garten Gethsemane, das war anders. So wie an diesem Abend, so hatten sie Jesus noch nie erlebt: Jesus, der starke Retter, Gottes Sohn! Vor Angst zitternd, verzweifelt, völlig verzagt, ein Häufchen Elend. Was war aus Jesus bloß geworden? Keine Spur mehr vom starken Retter, vom Sohn Gottes! War das alles ein Irrtum gewesen? Sollten sie, Petrus, Johannes und Jakobus, jetzt Jesus stützen, der doch immer ihre Stütze gewesen war? Diese Stütze war jetzt weggebrochen. Wie sollte es bloß weitergehen? Die drei Jünger wissen es nicht. So schließen sie die Augen und schlafen ein.

Einfach die Augen schließen und einschlafen und all das Bedrohliche und Schreckliche ausblenden. So mancher wünscht sich das, gerade auch in unseren Tagen. „Mein Vater weint den ganzen Tag,“ erzählt mir eine Frau. „Alle seine Kriegserlebnisse sind jetzt wieder da. Nie hat er darüber sprechen können, und schon gar nicht weinen. Jetzt weint er und kann nicht mehr aufhören.“ Krieg ist schrecklich. Und selbst nach 70 Jahren wirft der zweite Weltkrieg immer noch lange Schatten in unsere Familiengeschichten, wird er immer noch jede Nacht neu durchlebt in den Alpträumen derer, die ihn miterleben mussten. Und jetzt ein neuer Krieg in Europa. Wo soll das alles enden? Frieden scheint nicht in Sicht. Unzählige Menschen sind auf der Flucht. Manchmal kann ich es nicht mehr ertragen, weiter darüber nachzudenken. Dann schließe ich die Augen vor dieser Realität. Wie im Traum lebe ich mein Leben weiter wie bisher. Vielleicht ist ja auch manchmal gut und richtig, das zu tun. Denn was wird aus mir, wenn ich den ganzen Tag nur noch gebannt auf die neuesten schlechten Nachrichten starre wie das Kaninchen auf die Schlange? Dann kann ich Niemandem mehr eine Hilfe sein. Auch nicht den Menschen, die mich jetzt gerade brauchen.

Petrus, Johannes und Jakobus schlafen. Dem Menschen, der sie jetzt gerade braucht, können sie deswegen keine Hilfe sein. Jesus ist ganz allein, ganz menschlich, ganz verletzlich. Die Jünger können es nicht ertragen, Jesus so zu sehen, und fliehen in den Schlaf. Können wir Jesus so ertragen? Jesus – nicht der starke Retter, der die Kriege und das Elend in dieser Welt einfach mit einem Handstreich beendet. Jesus, der schwach ist, der leidet und stirbt. Und in seinem Leiden und Sterben ist er all denen ganz nahe, die leiden und sterben. Jesus ist da – in den Luftschutzkellern in der Ukraine, bei den auseinandergerissenen Familien, bei den Flüchtlingen an den Grenzen, bei den Verwundeten, bei den Sterbenden. Jesus ist da, schwach und zitternd. Einer, der die Schmerzen wirklich gespürt hat, die ihm am Kreuz zugefügt wurden. Zu Jesus können wir beten, auch in der größten Not und im tiefsten Leiden. Jesus versteht das. Er hat das selbst erlebt und durchlitten. Und seine Worte gelten – die kraftvollen Worte, die er gesprochen hat: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“

Daran will ich festhalten, in all der Zerbrochenheit, die ich in unserer Welt erlebe. Und wenn ich daran festhalte, dann schaffe ich es vielleicht, dass ich den entscheidenden Augenblick nicht verschlafe, in dem ich gebraucht werde. Dann schaffe ich es vielleicht, die Augen offen zu halten, auch wenn das, was ich sehe, schrecklich ist und mir Angst macht. Dann schaffe ich es vielleicht, dass das Schreckliche und Angst Machende mich nicht in seinen Bann zieht. Denn ich will nicht sein wie das Kaninchen vor der Schlange. Vielleicht schaffe ich es dann, mich nicht lähmen zu lassen, sondern handlungsfähig zu bleiben – wach und bereit für die Menschen, die mich jetzt brauchen. Ich weiß, das alles kann ich nicht aus mir selbst heraus schaffen. Ich brauche dazu Hilfe von oben, Hilfe von Gott. Ich brauche dazu das Gebet. Und manchmal wird es wohl trotzdem schiefgehen. Manchmal wird es auch mir passieren, dass ich die Augen schließe, wo ich sie eigentlich hätte offen halten sollen – so wie es Petrus, Johannes und Jakobus passiert ist. „Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt!“ sagt Jesus zu den Dreien. Und ich weiß, auch ich habe diese Ermahnung nötig: „Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt!“

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer