Liebe Mitchristen!
Es ist Karfreitag. Das Geläut unserer vier Glocken, das sonst immer zu unseren Gottesdiensten einlädt, bleibt heute stumm. Am Karfreitag ist es still. Die Glocken schweigen. Kein einziges noch so kleines Glöckchen erklingt. Nichts. Schweigen. Karfreitag, dass ist der Tag, an dem Jesus gestorben ist. In aller Stille begehen wir diesen Feiertag. Auch Jesus selbst schweigt, als er am Kreuz hängt. So erzählt es uns das Matthäusevangelium (Mt 27, 33-56). Jesus schweigt. Er, Jesus, der immer so viele Geschichten wusste. Der in Gleichnissen von Gott erzählt hat, der für uns da ist. So wie ein guter Vater, der seinen verlorenen Sohn nach langer Abwesenheit wieder daheim willkommen heißt und ihm vergibt. So wie ein guter Hirte, der keines seiner Schafe verloren gibt- auch nicht ein einziges. So wie eine sorgfältige Hausfrau, die ihr ganzes Haus auf den Kopf stellt und nicht aufgibt, bis sie ihre verlorene Silbermünze wieder gefunden hat (Lk 15, 1-32). Ja, Jesus konnte erzählen. Mit seinen Geschichten konnte er den Menschen Mut und Hoffnung machen. Und diskutieren konnte er. So manches Streitgespräch hat er geführt mit den religiös Gebildeten seiner Zeit. Mit seinen Worten konnte Jesus die Dinge zurechtrücken. Mit seinen Worten konnte Jesus den Menschen die Augen öffnen und sie von ihren falschen Wegen abbringen. Jesus konnte Glauben wecken, trösten, ermutigen, heilen- alles mit seinen Worten.
Aber jetzt am Kreuz schweigt Jesus. Sollte das alles, was er zuvor mit seinen Worten bewirkt hat, jetzt vorbei sein? Hat Jesus jetzt nichts mehr zu sagen- ausgerechnet jetzt, wo die Menschen doch eine Erklärung bräuchten, die da um das Kreuz herumstehen. Jemanden, der ihnen hilft zu verstehen, was hier gerade passiert. Jemand, der ihnen sagt, dass das noch gilt, was Jesus alles gesagt und getan hat, als er mit seinen Jüngern in Israel unterwegs war und die Herzen so vieler Menschen für Gott geöffnet hat. Aber Jesus erklärt nichts, als er am Kreuz hängt. Jesus schweigt.
Still ist es deswegen nicht an diesem ersten Karfreitag, dort draußen vor den Toren Jerusalems, dort oben auf dem Hügel Golgatha. Laut wird es zugegangen sein bei dem Glücksspiel, das die Soldaten unter dem Kreuz spielten. Jesus ist noch nicht gestorben, da teilen sie schon seine Kleider unter sich auf: Wer wird wohl das große Los ziehen und das Obergewand von Jesus bekommen? Der Stoff ist noch gut; mit dem Kleidungsstück kann man was anfangen- vielleicht hat der Gewinner dieses Glücksspiels sogar gejubelt? Die Soldaten unter dem Kreuz, sie haben schon viele Menschen sterben sehen. Es kümmert sie nicht mehr, ob da gerade jemand qualvoll am Kreuz stirbt.
Menschen können abstumpfen, können ihre Fähigkeit zum Mitleiden und zur Mitmenschlichkeit verlieren. Ideologische Verblendungen, eigene Gewalterfahrungen, Hass, der geschürt wird- das alles kann Menschen so verändern. Ich denke an den Krieg in der Ukraine, der nun schon seit über zwei Jahren andauert. An die Soldaten, die dort auf beiden Seiten kämpfen, an die Gräueltaten, die dort begangen wurden und weiter begangen werden, Tag für Tag. Ich denke an Terroristen. An die, die am vergangenen Freitag in Moskau ein Blutbad angerichtet haben. An die Hamas- Kämpfer, die am 7. Oktober 2023 in Israel wehrlose Zivilisten brutal niedergemetzelt haben. Ich denke an den Gazakrieg, der hier seinen Anfang genommen hat- an die Tausenden von Menschen, die in diesem Krieg ihr Leben verloren haben, an die Palästinenser im Gazastreifen, die nirgendwo in Sicherheit sind. Kümmert es uns, dass unsere Welt gerade aus den Fugen gerät? Stört es uns noch, dass sich die Rüstungsspirale immer weiter nach oben dreht? Beunruhigt es uns, dass sich Juden in unserem Land nicht mehr sicher fühlen? Haben wir noch Mitleid mit den Opfern des Terroranschlags in Moskau, mit der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen?
Jesus schweigt. Auch uns bleibt oft nur Schweigen. Ratloses Schweigen, hilfloses Schweigen. Wir wissen keinen Ausweg aus den Krisen dieser Zeit. Wir wissen keine Lösung. Uns fehlen die Worte. Aber Schweigen ist schwer zu ertragen. Jesus schweigt stundenlang, dort am Kreuz auf Golgatha. Für die, die um das Kreuz herumstehen, ist das zu viel. Und so tun sie das, was Menschen tun, wenn das Schweigen unerträglich wird und sie doch keine passenden Worte finden. Unter dem Kreuz wird es laut. Es ist, wie wenn sich ein Ventil öffnet. Spott, Ironie, Sarkasmus- das alles prasselt auf Jesus ein: „Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz!“ „Anderen hat er geholfen, und kann sich selber nicht helfen. Er ist der König von Israel, er steige nun herab vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben.“ „Er hat Gott vertraut, der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn.“ „Halt, lass uns sehen, ob Elia komme und ihm helfe!“ (Mt 27,39-43.49)
Sind das die Gaffer, die so reden? Die Unfalltouristen, die in unseren Tagen die Rettungskräfte behindern und Bilder von Unfalltoten ins Internet stellen? Sind das diejenigen, die heutzutage im Internet einen shitstorm lostreten? Diejenigen, die Hasstiraden posten, um anderen damit zu schaden? Oder ist es einfach nur Enttäuschung und Frustration, die sich hier wütend Bahn bricht? Das Blatt hat sich gewendet. Der, dem sie am Palmsonntag als König zugejubelt haben, hat ihre Erwartungen nicht erfüllt. Wollen sie ihn wirklich nur verspotten, oder erwarten sie doch eine Antwort von ihm? Eine Erklärung, damit alles wieder Sinn macht. Ein Machtwort. Oder besser noch: Eine mächtige Tat: Steig herab vom Kreuz. Wir können es nicht ertragen, dass du dort so hilflos hängst. Du warst doch unsere Hoffnung und unsere Hilfe. Und jetzt stirbst du so einen schändlichen Tod und lässt uns allein zurück.
Hätte Jesus da nicht antworten sollen? Hätte er nicht erklären sollen, dass sein Sterben einen Sinn hat? Dass es so sein muss, damit sich niemand mehr von Gott verlassen fühlen muss, auch nicht im schwersten Leiden? Dass für uns dadurch Vergebung möglich wird, ein Neuanfang trotz aller Schuld? Aber Jesus schweigt. Machtlos und wehrlos hängt er am Kreuz und schweigt. In diesem Moment ist er ganz Mensch, ganz Leidender. Und gerade dadurch uns so nah in unseren dunklen Stunden, wenn uns die Worte fehlen. Worte des Trostes, die wir Trauernden sagen wollten. Und dann stehe ich diesen Menschen gegenüber und sehe das ganze Elend in ihrem Blick, und die Worte bleiben mir im Hals stecken. Angesichts des Todes wird der Mensch stumm und sprachlos. Und auf die oberflächlichen Worte, auf das „Kopf hoch“ und „Wird schon wieder“ will ich auch nicht zurückgreifen. Besser gar keine Worte als solch falscher Trost.
Jesus fehlen die Worte. Und nach drei Stunden kommt zum Schweigen noch die Dunkelheit. Nichts ist mehr zu hören. Der Gekreuzigte schweigt. Die Welt ist stumm. Nichts ist mehr zu sehen. Die Welt verhüllt vor Trauer ihr Gesicht. Erst kurz vor seinem Tod spricht Jesus. Nein, er spricht nicht, er schreit. Sein Todesschrei ist es. In die Dunkelheit hinein schreit Jesus diesen einen Satz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Jesus schreit und stirbt. Verstörend sind seine letzten Worte, die das Matthäusevangelium überliefert, diese tiefe Gottverlassenheit, die Jesus verspürt hat in seiner letzten Stunde. Und doch ist dieser Schrei ein Gebet. Alte und vertraute Worte sind das, die Jesus in seiner höchsten Not einfallen, Worte aus Psalm 22: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Mit Jesus schreit alles in der Welt, das gequält wird. Wo ist Gott in diesem Moment? Wo ist Gott in unserer Zeit? Wo war er im Oktober bei dem Hamas- Terror in Israel? Wo war er, als vergangenen Freitag der Terroranschlag in Moskau geschah? Wo ist Gott in den Kriegsgebieten, in der Ukraine, im Gazastreifen und anderswo, wo Menschen sterben und verwundet werden an Körper und Seele? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Wo ist Gott zu finden, wenn nicht dort am Kreuz, wenn nicht in diesem Schrei äußerster Gottverlassenheit? Denn es ist Gott selbst, der dort leidet. Gott, der nicht will, dass Menschen leiden. Er kann nicht stumm am Kreuz hängen, und seine Geschwister sterben durch Krieg, Terror und Gewalt. Gott ist es nicht egal, wie es auf seiner Welt zugeht. Er stirbt nicht ohne Protest gegen alle, die den Tod mit dem Taschenrechner betreiben. Für Gott zählt jedes Menschenleben. Sein Schrei ist auch der Schrei der Vergewaltigten, Gefolterten und Ermordeten in unserer Zeit. Gott leidet mit. Im Aufschrei. Im Protestschrei gegen das Leiden wird Gott unser Bruder- in Jesus Christus, der am Kreuz für uns gestorben ist.
Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer