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Gedanken zum Sonntag

Estomihi

Predigt zum Sonntag Estomihi, 27. Februar 2022

Markus 8, 31-38: Und Jesus fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Und er redete das Wort frei und offen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. Er aber wandte sich um, sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Geh hinter mich, du Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben behalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s behalten. Denn was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und Schaden zu nehmen an seiner Seele? Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse? Wer sich aber meiner und meiner Worte schämt unter diesem ehebrecherischen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln.

Liebe Mitchristen!

„Was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und Schaden zu nehmen an seiner Seele?“ fragt Jesus. Diese Frage geht mir nach in diesen Tagen, wo wir erleben müssen, dass der seit vielen Jahren zwischen Russland und der Ukraine schwelende Konflikt zum offenen Krieg wird. Der russische Angriff auf die Ukraine erfüllt mich mit großer Sorge, und ich frage mich: Was hilft es, Gebiete und Ländereien gewinnen zu wollen und deswegen einen Krieg anzufangen? Bei einem Krieg gibt es immer nur Verlierer, auf beiden Seiten. Menschen sterben bei Kampfhandlungen. Menschen sind auf der Flucht. Angst und Verunsicherung greifen um sich, auch bei uns in unserem Land: Wie wird es weitergehen mit der Gasversorgung in unserem Land? Werden sich die Armen bald keine warme Wohnung mehr leisten können? Wie weit wird dieser Krieg gehen? Wird er sich noch ausweiten? Mein Sohn fragt mich, ob ich mir vorstellen kann, dass die Wehrpflicht wieder eingeführt wird in Deutschland. Als ich das nicht ausschließen will, fragt er mich nach dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung. „Ich will keinen Menschen umbringen müssen,“ sagt er. Er hat es für sich erkannt: Wir nehmen Schaden an unserer Seele, wenn wir uns auf Krieg und Gewalt einlassen.

Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein! Das haben einhundertfünfzig Kirchen aus der ganzen Welt 1948 in Amsterdam einmütig gesagt. Nach dem millionenfachen Tod und Leid und der himmelschreienden Grausamkeit im Zweiten Weltkrieg war das ihr gemeinsames Bekenntnis: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.

In Europa war es mit dem Ende des schrecklichen Weltkriegs in den Jahrzehnten danach stiller um den Krieg geworden. Gekämpft wurde anderswo, in anderen Gegenden der Erde. Es schien so, als hätten die Menschen Europas miteinander beschlossen: So etwas darf nie wieder geschehen. Doch dann kehrte der Krieg auf dem Balkan auf unseren Kontinent zurück mit Tod und Verderben. Und er ist geblieben: Im Osten der Ukraine, mitten in Europa, herrscht bereits seit einigen Jahren wieder Krieg. Menschen töten Menschen, Städte und Dörfer werden unbewohnbar. Das Leid derjenigen, die in ihrer Heimat ausharren, ist unvorstellbar.

Jetzt droht dieser schmutzige, vermeintlich regionale Krieg zu einem großen Krieg zu werden. Was ist unsere gemeinsame Aufgabe dabei als Christinnen und Christen? Was hätte Jesus in dieser Situation getan? Ganz sicher hätte Jesus nicht zur Waffe gegriffen. Jesus ist den Weg der Gewaltlosigkeit gegangen. Und er ist diesen Weg konsequent zu Ende gegangen, bis zum Tod ans Kreuz. „Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben behalten wird, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s behalten,“ sagt uns Jesus. Das ist ganz sicher nicht der bequeme Weg – nicht heute und auch nicht in früheren Zeiten. Noch nie war dieser Weg bequem und einfach, nicht einmal für die Jünger, die engsten Vertrauten von Jesus. Es sicher kein Wunder, dass die Jünger weggelaufen sind, als Jesus verhaftet wurde. Und es ist auch kein Wunder, dass Petrus Jesus dreimal verleugnet hat, als Jesus verhört wurde vor dem Hohen Rat. Genauso wenig ist es verwunderlich, dass Petrus in unserem Predigttext Jesus abbringen will von diesem Weg der Gewaltlosigkeit, der Jesus ins Leiden und in den Tod führt. Aber Jesus weist Petrus schroff zurück: „Geh hinter mich, du Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.“

Jesus wird zornig und schleudert Petrus, der zu seinen engsten Vertrauten gehört, diese harten Worte entgegen. Ob er diesen Wutausbruch später wohl bedauert hat? Wir wissen es nicht. Aber wir wissen, dass Jesus Petrus immer wieder eine neue Chance gegeben hat und ihm viel zugetraut hat. Was will Jesus mit diesen harten Worten sagen? In der jetzigen Krisensituation würde ich es so ausdrücken: Es gibt Momente, da gibt es nicht den einfachen und bequemen Weg. Da kann man sich nicht einfach rausreden oder zur Seite schauen. Da muss man Farbe bekennen und offen Stellung beziehen. Jesus hat uns gezeigt, welcher Weg zum Leben führt – zum Leben in Frieden und Freiheit, zum Leben ohne Angst. Zu diesem Leben in Fülle, das für die Menschen in der Ukraine jetzt in so weite Ferne gerückt ist. Jesus ist diesen Weg vorausgegangen, und wir haben die Aufgabe, ihm nachzufolgen.

Ich möchte mich den Gedanken anschließen, die Andreas Klodt von der Evangelischen Kirche in Mainz dazu geäußert hat: „Gott ist ein Gott des Friedens. Ein Gott des Miteinanders, nicht des Gegeneinanders. Er hat uns einen Kopf und ein Herz gegeben, damit wir Wege finden, um zu verhindern, dass Menschen getötet werden. Wir können in seinem Namen zu Friedensstifterinnen und Friedensstiftern werden: Wir können dagegenhalten, wenn der Krieg schöngeredet wird. Wir können uns an die Seite der Opfer stellen, wo immer es geht. Wir können Politikerinnen und Politiker auffordern, alles zu tun, was dem Frieden dient. Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Um der Menschen willen soll Frieden sein.“

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

 

 

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4. Sonntag vor der Passionszeit

Predigt zum 4. Sonntag vor der Passionszeit, 6. Februar 2022

Mt 14, 22-33: Und alsbald trieb Jesus seine Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm hinüberzufahren, bis er das Volk gehen ließe. Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er allein auf einen Berg, um zu beten. Und am Abend war er dort allein. Und das Boot war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen. Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem See. Und als ihn die Jünger sahen auf dem See gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht! Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, hilf mir! Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und sie traten in das Boot und der Wind legte sich. 33Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!

 

Liebe Mitchristen!

Es stürmt. Scharf pfeift der Wind ins Gesicht. Gegenstände wirbeln durch die Luft. Die Äste der Bäume knarren und ächzen. Jesus ist auf einen Berg gestiegen. Endlich mal allein sein und abschalten. Endlich mal Zeit haben – nur für mich, nur für Gott. Jesus betet. Es ist schon Abend. Jesus will neue Kräfte schöpfen für den nächsten Tag. Heute waren über 5000 Menschen da, die Trost und Heilung brauchten: Kranke und Gesunde, vom Schicksal gebeutelte und solche, die einfach nur neugierig waren. Gottes Wort hatte er ihnen gegeben und Heilung und Brot. Es war ein langer Tag gewesen. Es war wirklich Zeit, jetzt Feierabend zu machen – für Jesus und erst recht für seine Jünger. Den Jüngern hatte Jesus schon früher Feierabend gegeben als sich selbst: „Fahrt ihr schon mal mit dem Boot voraus, bis ich die Leute hier vollends nach Hause geschickt habe,“ hatte er ihnen gesagt. „Ich komme dann später nach – am Ufer entlang.“ Eigentlich war das ein guter Plan. Wenn da nur nicht dieser Sturm gewesen wäre.

Jesus steht auf dem Berg und schaut hinunter zum See Genezareth. Die Wellen des Sees schlagen immer höher ans Ufer. Schaumkronen sind auf den Wellen des Sees, so weit das Auge blickt – bis sich das alles verliert im Dunkel der heraufziehenden Nacht. Dort unten auf dem See gibt es einen winzigen Punkt, der auf den Wellen tanzt – ein kleines Fischerboot. In dem Boot sitzen die Jünger vorn Jesus und kämpfen mit den Wellen. Sie kämpfen um ihr Leben. Sie sind in Seenot. Und Jesus ist weit weg von ihnen – dort oben auf dem Berg. Jesus macht sich Sorgen um seine Jünger: War es ein Fehler, dass er sich diese Zeit zum Alleinsein genommen hat? Hätte er bei ihnen bleiben sollen? Wird er ihnen jetzt noch helfen können? Wird Gott ihm die Kraft dazu geben? Die Sorgen treiben Jesus vom Berg, runter zum See, wo seine Jünger ihn brauchen. In tiefster Nacht erreicht er das Seeufer.

In tiefster Nacht kämpfen die Jünger auf dem See mit den Wellen. Das rettende Ufer ist nicht weit. Aber es ist unmöglich, das Ufer zu erreichen. Der Wind steht ihnen entgegen. Verzweifelt legen sie sich in die Riemen, um gegenzusteuern. Verzweifelt schöpfen sie Wasser aus dem Boot, damit es nicht sinkt. Wie lange wird das Boot dem Sturm wohl noch standhalten? Jeden Moment kann es auseinanderbrechen. Dann ist es aus. Die Jünger versuchen, nicht daran zu denken. Keiner spricht ein Wort. Verbissen machen sie weiter. Auch wenn die Hoffnung schwindet, dass sie es schaffen werden. Auch wenn sie am Ende ihrer Kräfte sind. Die Nacht ist tief. Man sieht kaum die Hand vor Augen. Eine schlaflose Nacht in den Stürmen des Lebens. Wie spät ist es eigentlich? Müsste es nicht bald Morgen werden? Wird es da hinten nicht schon heller – ein Lichtblick, ein Silberstreif am Horizont? Oder ist das eher ein Nebelstreif, was da im Sturm über dem Wasser zu sehen ist? Es kommt näher, unheimlich, unentrinnbar – wie ein Alptraum, der nach den Jüngern greift in dieser schlaflosen Nacht: Jetzt ist es aus. Jetzt werden die Fluten uns verschlingen. Die Jünger schreien laut auf. Aber eine vertraute Stimme reißt sie heraus aus ihrem Alptraum – eine Stimme, die sogar das Pfeifen und Heulen des Sturmes durchdringt: „Fürchtet euch nicht. Ich bin es.“ Das ist die Stimme von Jesus. Und jetzt sehen die Jünger ihn auch. Es ist kein Gespenst, es ist Jesus. Jesus auf dem Wasser, mitten im Sturm, einfach so? Als ob es keine Naturgesetze gäbe. Als ob das so einfach wäre mit den Stürmen des Lebens: Da kämpfe ich schon eine ganze schlaflose Nacht lang. Ich kämpfe mit Wind und Wellen und Sorgen und Alpträumen. Und dann kommt da Jesus ganz leichtfüßig über das Wasser gelaufen und sagt: „Fürchte dich nicht. Ich bin es.“ Als ob das gleich alle meine Probleme lösen würde. Schließlich stürmt es noch immer in meinem Leben. Wieso sollte ich also keine Angst mehr haben? Da könnte ja jeder kommen und behaupten, jetzt wird alles gut. Wer sagt mir, dass das wirklich Jesus ist und nicht nur ein Gespenst? Irgendein Hirngespinst, das sich meine verworrenen Gedanken selber ausgedacht haben in dieser schlaflosen Nacht? „Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser,“ sagt Petrus. Schließlich muss ich meinen Weg selber gehen. Ich muss selber das durch durch diese Nacht. Ich muss selber erfahren, dass der Boden trägt unter meinen Füßen, egal, wie schwankend er ist. Jesus sagt zu Petrus: „Komm her!“ Und Petrus wagt es. Er steigt aus dem Boot. Er verlässt das letzte bisschen Sicherheit, das ihm geblieben ist im Sturm seines Lebens. Petrus riskiert es, vollends den Boden unter den Füßen zu verlieren. Mit dem Mut der Verzweiflung steigt er aus dem Boot, das wohl ohnehin bald zerschellen wird in den Stürmen dieser Nacht. Aber jetzt hat er ein Ziel vor Augen. Er hat einen Weg, der ihn aus dieser Ausweglosigkeit herausführt. Petrus geht zu Jesus. Er weiß: Nur Jesus kann mir helfen. Auch wenn da überhaupt kein Weg ist, den ich gehen kann – nur Sturm und Wellen und Vernichtung. Jesus weiß einen Weg für mich.

Petrus vertraut Jesus. Aber der Sturm ist immer noch da. Die Wellen stehen vor Petrus wie Berge. Es ist Wahnsinn, was ich hier tue, durchfährt es Petrus wie ein Blitz. Es ist Wahnsinn, einfach loszulassen und zu vertrauen. Einfach loszugehen ohne Weg und nicht danach zu fragen, wie tief es runter geht unter mir. Der Wind pfeift Petrus ins Gesicht. Und nach unten geht es tief runter. Wie konnte er da jemals so etwas wie Boden unter den Füßen verspüren? Petrus versinkt in den Fluten. Er kommt da nicht mehr raus aus dieser schlaflosen Nacht. Die Tiefe verschluckt ihn. Jetzt ist es aus, durchfährt es ihn. Aber da spürt er eine Hand. Eine Hand, die ihn hält. Eine feste und kräftige Hand. Die Hand zieht Petrus aus den Fluten. Jesus ist da – greifbar, spürbar, erfahrbar. „Warum hast du gezweifelt?“ fragt Jesus ihn. Petrus weiß keine Antwort. Er weiß nur: Ich bin gerettet. Die Abgründe, die sich vor mir aufgetan haben, haben sich wieder geschlossen. Und wenn ich es nicht allein schaffe, dann ist Jesus da und nimmt mich bei der Hand. Die Stürme des Lebens legen sich wieder. Die schlaflose Nacht ist vorüber mit ihrer Verzweiflung und ihren Sorgen. Jesus kann helfen. Die Jünger fallen vor Jesus nieder und sagen: „Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!“

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

 

 

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Letzter Sonntag nach Epiphanias

 

Predigt von Pfarrerin Esther Kuhn-Luz

Am 30. Jan. 2022, Letzter Sonntag nach Epiphanias

Liebe Gemeinde,

wir brauchen immer wieder Worte, mit denen wir gestärkt werden, wenn wir nicht richtig weiter wissen. Worte, die jemand zu uns sagt oder schreibt, Worte, die wir lesen… auch in der Bibel. Und da lesen wir heute in einem Brief eines Mannes, der wohl der Apostel Petrus war, wie er mit seinen Worten Menschen stärkt, ihnen Mut macht, nicht zu verzweifeln, sondern die innere von Gott geschenkte Hoffnung zu behalten.

Predigttext: 2. Petr.1,16-19

Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit mit eigenen Augen gesehen. Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Preis durch eine Stimme, die zu ihm kam von der großen Herrlichkeit: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen, als wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge. Umso fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen.

Petrus schreibt an die kleinen christlichen Gemeinden, die sehr angegriffen wurden. Zum einen von römischer Militärmacht, aber auch von Menschen, die andere Religionen hatten.  Was – ihr glaubt an einen Gott, den man nicht sieht? Ihr glaubt an einen Mann, den ihr Christus nennt, Gottes Sohn – und der auferstanden sein soll? Wo sind die Beweise? Erzählt ihr nicht nur Fabeln?
Das war nicht einfach, diesen Angriffen etwas entgegenzusetzen. Denn – sie waren manchmal selber in diesem Zwiespalt. Auf der einen Seite spürten sie diese starke Kraft in ihnen: an Christus zu glauben, an seine Auferstehung. Und diese Hoffnung – dass Gott jeden Tag da ist, mich begleitet, egal, welchen Weg ich gehe, wo ich gerade innerlich und äußerlich bin.
Das zu spüren tat gut. Aber – ganz ehrlich war es auch immer wieder schwer, mit der Unsichtbarkeit Gottes zu leben.

Mit diesen innerern Zweifeln, mit dieser Verunsicherung leben wir ja in unserer Zeit heute auch. Auch wir sind inzwischen kleine Gemeinden – und werden herausgefordert. Von kritischen Fragen von außen und von innen.

Auch die Pandemie fordert uns in unserem Glauben heraus. Mich fragen immer wieder Erwachsene und auch Jugendliche:
Hat Corona etwas mit Gott zu tun? Hat uns Gott Corona als Strafe geschickt?
Nein. Da ist in mir eine ganz klare Antwort. Gott schickt nicht einfach Pandemien.

Die Pandemie ist keine Strafe Gottes – aber sie zeigt uns auf, dass wir als Menschheit nicht mehr auf die Grenzen achten, die Gott uns Menschen in seiner Schöpfung gegeben hat. Die Erde bebauen und zu bewahren.
Die wichtigen Diskussionen um die Klimakrise zeigen uns, welche Grenzen überlebenswichtig sind: es kann nicht um ständig weiteres Wachsen gehen, sondern um die Frage: was brauche ich, was brauchen wir, um gemeinsam gut leben zu können?
Die Coronakrise ist ein Brennglas auf die Zerbrechlichkeit der Welt. Es macht Leid noch sichtbarer. Es zeigt, wie verwundbar wir alle sind – und dass wir uns gegenseitig brauchen, um uns zu unterstützen. Es zeigt, dass es nichts bringt, nur für sich selber zu sorgen, nur für die eigene Freiheit einzutreten. Wir müssen solidarisch miteinander sein. Wir gehören als große Menschheitsfamilie zusammen. Auch in der Beschaffung und Verteilung des Impfstoffes.  Es genügt nicht, nur für sich selber achtsam zu sein, sondern immer den Blick auch dafür zu haben, was andere gerade brauchen. Hier bei uns in Deutschland – in Europa – auf der Welt. Denn – alles hängt mit allem zusammen.
Gott hat uns Verantwortung füreinander gegeben.
Ja, aber – fragen manche weiter – was tut Gott?

Gott ist die Kraft in uns.
„Umso fester vertrauen wir auf Gottes Wort und achten darauf als ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen.“ So schreibt es der Verfasser des Petrusbriefes an die Christen, die damals nicht von einer Pandemie, aber von römischer Militärgewalt immer wieder bedroht waren.
Die Kraft Gottes in mir – wie ein Morgenstern, der aufgeht in unseren Herzen. Wie ein Licht, das scheint an einem dunklen Ort.
Das ist ein starkes Bild. Es tut sehr gut, sich darauf mal ganz einzulassen. In mir wohnt Gott – als ein Licht. Und das scheint gerade auch in dunklen Zeiten. Wenn man dieses Bild ganz verinnerlichet hat, dann spürt man, welche Kraft sich daraus entwickelt.
Ich selber kann immer wieder mutlos sein, kann spüren, dass sich in mir eine Resignation ausbreitet, es dunkel in mir wird.

Dann brauche ich die Erinnerung – wie heute im Gottesdienst:
Gott wohnt in mir – und in den andren auch! –„… als ein Licht, das scheint an einem dunklen Ort. Bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen.“ Dieses Licht ist immer da – ich muss mich nur immer wieder daran erinnern, mir Zeit nehmen, um mir darüber bewusst zu werden.

Was heißt das, Gott wohnt in mir?
Erinnern Sie sich noch an das Weihnachtslied von Paul Gerhardt: Ich steh an deiner Krippen hier? Da kommen 2 Strophen vor, die uns davon erzählen, dass Gott in Jesus wie ein Licht in die Welt gekommen ist – und nun auch in uns wohnt.
„Ich lag in tiefster Todesnacht, du warest meine Sonne. Die Sonne, die mir zugedacht, Licht, Leben, Freud und Wonne. O Sonne, die das werte Licht des Glaubens in mir (!) zugericht, wie schön sind deine Strahlen!“
Und in der letzten Strophe heißt es dann:
„Eins aber, hoffe ich, wirst du mir, mein Heiland, nicht versagen: dass ich dich möchte für und für in, bei und an mir tragen. So lass mich doch dein Kripplein sein, komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden.
Seit Weihnachten ist also unser Herz, vielleicht besser: unsere Seele die Krippe der Ort, an dem das Licht Gottes in uns scheint.
Da tragen wir einen riesigen Hoffnungsproviant in uns. Und wo Licht scheint, will das auch nach außen.
Das bedeutet nun nicht, dass man selbst nicht auch immer wieder Dunkles in sich trägt, viele Fragen, vielleicht auch Zweifel hat. Die sind auch nötig, um mich immer wieder zu fragen: auf welche Weise soll ich in diese Welt Licht bringen? Welche Aufgabe habe ich mit meinen Fähigkeiten, mich so einzubringen in die Welt, in Familie, Freundschaft, Schule, Arbeit etc – …. dass es etwas heller wird in der Welt?

Für Dietrich Bonhoeffer, den Theologen und evang. Pfarrer, der in der Zeit des Nationalsozialismus im Widerstand gegen die Nazis gearbeitet hat, war es wichtig, dass ein Engagement für eine friedliche Welt aus diesem inneren Licht Gottes kommt. Nur so bekommt man Orientierung und Mut mitten im Alltag. Er war aber gleichzeitig überzeugt, dass wir immer so handeln müssen, dass wir selbst Verantwortung übernehmen müssen und nicht sagen können: Gott, nun mach doch mal.
Er hat geschrieben, dass wir vor Gott leben –als würde es Gott gar nicht geben – etsi deus non daretur. Um nicht Gott die Verantwortung in die Schuhe zu schieben, sondern selbst bereit zu sein, Verantwortung zu übernehmen. – und so vor Gott zu leben.

Das klingt kompliziert. Aber ehrlich gesagt hat mir das immer sehr viel bedeutet. Wir leben in einer Welt, in der in unserem Alltag nicht viel von Gott die Rede ist – und es geht nicht darum, dass wir ständig den Namen „Gott“ im Munde haben, wenn wir mit anderen reden. Aber es ist wichtig, dass dieses innere Licht auch nach außen strahlen kann.

„Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen.“
Das heißt, mit dem Tag unserer Geburt kommen wir in eine Welt, die Gott geschaffen hat. Wir treffen auf Menschen, die Gott auch zu seinen Ebenbildern geschaffen hat. Wir leben in einem großen Horizont, den Gott uns aufspannt – weil er Himmel und Erde und das Meer erschaffen hat.

Wenn man am Meer steht oder auf einem hohen Berg, dann versteht man das noch besser, dass Gott uns in einen ganz großen Lebenshorizont gestellt hat – und wir uns immer wieder auch in unserem Denken von dieser Weite Gottes berühren lassen können, sollen.

Wenn man den Horizont sieht in der Ferne, dann öffnet sich vor mir ein weiter Raum… und ich weiß nicht, was hinter dem Horizont kommt… ich weiß nur, dass es weiter geht.
Und Gott stellt mich, stellt uns in diesen weiten Raum.
Es sind keine Fabeln, die wir da erzählen, sondern Erfahrungen!

„Wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kundgetan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit mit eigenen Augen gesehen.“
Der Apostel Petrus trägt in sich als ein inneres Licht die Erinnerung an dieses besondere Ereignis auf dem Berg, als er mit  Johannes und Jakobus  erlebt hat, wie Jesus ganz vom Licht umgeben ist. Verklärung hat man das später genannt.

Und jetzt sieht er und die anderen beiden Jünger, wie auch Jesus leuchtet, wie das innere Licht ganz nach außen kommt – so wie wir manchmal auf Menschen treffen, die ganz erleuchtet sind. Weil sie etwas so Schönes, so stärkendes erfahren haben.

Und tatsächlich erscheinen jetzt neben Jesus auch Mose und Elia…. Die diesen inneren äußeren Glanz Gottes tragen.

Petrus ist selber so erfüllt. So soll es immer bleiben: So nah bei Gott. So ganz und gar erfüllt vom Licht Gottes oder wenigstens so nahe bei Menschen, die von Gottes Licht erfüllt sind. Klar – wer würde nicht gerne in so einer besonderen Situation bleiben wollen? „Ach Jesus, am liebsten würde ich jetzt hier sofort 3 Hütten bauen – für dich und für Mose und für Elia… und dann bleiben wir auf dem Heiligen Berg!“
Nie wird er das Vergessen. Am liebsten wäre er und die anderen 3 Jünger da oben geblieben. Weit weg von allen Problemen dieser Welt. Miterleben, wie Gott spricht, wie Gott ganz gegenwärtig ist, wie man selber das Gefühl hat, von Gott erfüllt zu sein. Aber gerade das wollte Jesus nicht. Nein, die Begegnung, die Berührung von Gottes Gegenwart ist nicht dafür da, um sich zu trennen von allen Themen des Alltags, sondern um Kraft zu bekommen, um mit den Problemen des Alltags um gehen zu können. Das Ziel ist nicht, auf einem heiligen Berg zu bleiben. Aber -es ist immer wieder notwendig, solche besonderen Zeiten mit Gott zu haben, um sich stärken zu lassen.
Wie gut, dass wir jeden Sonntag Gottesdienst feiern können, um uns durch die biblischen Worte, durch Gebete und Lieder erinnern zu lassen:
Umso fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen.
Amen

 

 

 

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3. Sonntag nach Epiphanias

Predigt zum 3. Sonntag nach Epiphanias, 23. Januar 2022

Matthäus 8, 5-13: Als aber Jesus nach Kapernaum hineinging, trat ein Hauptmann zu ihm; der bat ihn und sprach: Herr, mein Knecht liegt zu Hause und ist gelähmt und leidet große Qualen. Jesus sprach zu ihm: Ich will kommen und ihn gesund machen. Der Hauptmann antwortete und sprach: Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund. Denn auch ich bin ein Mensch, der einer Obrigkeit untersteht, und habe Soldaten unter mir; und wenn ich zu einem sage: Geh hin!, so geht er; und zu einem andern: Komm her!, so kommt er; und zu meinem Knecht: Tu das!, so tut er’s. Als das Jesus hörte, wunderte er sich und sprach zu denen, die ihm nachfolgten: Wahrlich, ich sage euch: Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden! Aber ich sage euch: Viele werden kommen von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen; aber die Kinder des Reichs werden hinausgestoßen in die äußerste Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappern. Und Jesus sprach zu dem Hauptmann: Geh hin; dir geschehe, wie du geglaubt hast. Und sein Knecht wurde gesund zu derselben Stunde.

Liebe Mitchristen!

„Können wir den Patenonkel für unser Kind nachträglich ändern?“ Diesen ungewöhnlichen Wunsch hatte eine Mutter an mich herangetragen. Ich habe diese Frau dann gefragt, warum sie das möchte. Und sie hat mir ihre Geschichte erzählt: Die Geschichte von ihrem 5jährigen Sohn Leon, der Krebs hatte. Viele Woche war er in Tübingen in der Kinderklinik. Seine Eltern haben ihn begleitet, und auch sein Onkel Michael, der nicht sein Patenonkel war. Der eigentliche Patenonkel hatte sich zurückgezogen. Vielleicht war er mit der Situation überfordert – ich weiß es nicht. Es war eine lange Zeit des Hoffens und Bangens für diese Familie. Und immer wieder gab es Phasen, wo die Ärzte gesagt haben: „Es sieht nicht gut aus für Leon. Wir wissen nicht, ob er es schaffen wird.“ Doch dann ging es aufwärts. Die Hoffnung wuchs: Leon wird es schaffen. Endlich durfte er wieder nach Hause und konnte sogar wieder in den Kindergarten gehen. „Wir haben so viel Schweres erlebt in dieser Zeit“, sagte mir Leons Mutter. „Wir haben so viele Kinder sterben sehen dort in der Kinderklinik auf der Krebsstation. Und unser Kind ist gesund geworden. Wir wollen das im Gottesdienst feiern; mit Michael als neuem Paten für Leon.“ Diese Mutter und ich, wir haben uns dann so geeinigt: Der bisherige Pate wird nicht gestrichen, und Leon bekommt seinen Onkel Michael als zusätzlichen Paten. So haben wir es in einem Gottesdienst gefeiert. Viele Jahre ist das nun her, und ich weiß nicht, was aus Leon inzwischen geworden ist, dort in meiner früheren Gemeinde. So Gott will, müsste er inzwischen wohl schon ein junger Mann sein.

Ein schwer krankes Kind ist gesund geworden, und die Eltern wissen: Es hätte auch ganz anders kommen können. Die Eltern haben es hautnah erlebt dort in der Kinderklinik: Andere Kinder mit derselben Krankheit sind gestorben. Dass uns das Leben geschenkt ist, versteht sich nicht von selbst. Dass ich heute das Licht des neuen Morgens sehen darf, ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist ein Geschenk, diesen neuen Tag leben zu dürfen; es ist Gnade. Und es ist ein Geschenk, wenn in schweren Zeiten Menschen da sind, die mich begleiten. So wie Leon von seinen Eltern und von seinem Onkel Michael begleitet wurde. Wenn wir das erleben dürfen, dann ist das ein Grund, Gott dankbar zu sein. Es ist ein Grund, einen Gottesdienst zu feiern. So wie die Familie von Leon es getan hat. So wie wir es Sonntag für Sonntag miteinander tun. Immer wieder gibt es solche Wunder, dass ein Mensch gesund wird. Auch unsere heutige Bibelgeschichte erzählt von einem solchen Wunder. Ein junger Mann ist schwer krank. „Es sieht nicht gut aus“, sagen die Ärzte. „Wir wissen nicht, ob er es schaffen wird.“ Dieser junge Mann hat einen Menschen, der für ihn da ist. Ein römischer Hauptmann ist das, und der junge Mann ist sein Diener. Warum geht ein römischer Hauptmann wegen seines Dieners zu einem jüdischen Rabbi -was ein römischer Hauptmann damals normalerweise nie machen würde? Warum ist ihm dieser Diener so wichtig? Was verbindet die beiden Männer außer dem Dienstverhältnis? Einen Hinweis gibt der Evangelist Lukas, der diese Geschichte auch erzählt. Bei Lukas heißt es, dass dieser Diener dem Hauptmann „lieb und wert war“ (Lukas 7,2). Liebe zwischen zwei Männern war in der römischen und griechischen Kultur zur Zeit Jesu nichts Anstößiges. Ja, ich möchte sagen. Die Liebe zwischen zwei Menschen ist eigentlich nie ein Grund, Anstoß zu nehmen – wenn es die frei entschiedene Liebe zwischen zwei Menschen ist, wenn niemand Drittes dadurch hintergangen wird. Liebe, das bedeutet Gegenseitigkeit, Begegnung auf Augenhöhe. Einer ist für den anderen da. Beide übernehmen Verantwortung füreinander. Ich erlebe unsere Bibelgeschichte zunächst einmal so. Denn dieser Hauptmann denkt nicht nur an sich und seine Bedürfnisse. Er denkt an seinen Diener. Er hat diesen jungen Mann ins Herz geschlossen. Und es dreht ihm das Herz um, wie dieser junge Mann leidet. So tut er alles, um ihm zu helfen. Die kulturellen Schranken zwischen der römischen Besatzungsmacht und der jüdischen Bevölkerung, sein Stolz als Hauptmann – das alles spielt keine Rolle mehr für ihn. Seine Liebe und Sorge treiben ihn zu Jesus: „Herr, mein Diener liegt gelähmt zu Hause und hat große Schmerzen.“ Jesus antwortet: „Ich will kommen und ihn gesund machen.“ Jesus schert sich nicht um Regeln und Grenzen. Grenzenlose Liebe zu den Menschen leitet ihn. Keine Volkszugehörigkeit, keine Religionsgrenze, keine Berufsgruppe kann ihn davon abhalten, zu kommen und zu heilen. Aber der Hauptmann will Rücksicht auf Jesus und seinen jüdischen Glauben nehmen. Er weiß: Als Jude würde Jesus sich nach damaligem Verständnis verunreinigen, wenn er das Haus eines Nichtjuden betritt. Das will er von Jesus nicht verlangen. Aber er ist überzeugt davon: Jesus kann helfen. „Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Diener gesund!“ Wie kommt der Hauptmann zu dieser Überzeugung? Es hat etwas mit seinem militärischen Hintergrund zu tun. So erklärt er es Jesus: Er selber hat als Hauptmann Befehlen von oben zu gehorchen. Und wenn er zu einem seiner Soldaten sagt: Geh hin! Dann geht er. Und wenn er zu seinem Diener sagt: Tu das! Dann tut er es.

An dieser Stelle wird mir der Hauptmann etwas unheimlich. Befehl und Gehorsam – wie lebt er das wohl in der Beziehung zu diesem jungen Mann, den er liebt? Eine Beziehung mit Machtgefälle ist das. Der eine ist der Vorgesetzte, der andere ist der Knecht. Liebe bedeutet Beziehung auf Augenhöhe. Liebe bedeutet Freiheit. Das gilt für alle Liebesbeziehungen, egal, welches Geschlecht die beiden Partner haben. Ich kann es nicht beurteilen, ob diese beiden Männer damals ihre Beziehung in Freiheit und auf Augenhöhe leben konnten. Vielleicht konnten sie es. Dass der Hauptmann für seinen Knecht Verantwortung übernimmt, spricht dafür. Trotzdem muss ich an dieser Stelle der Geschichte an die vielen Menschen denken, die Sexualität unter dem Vorzeichen von Befehl und Gehorsam erleben mussten, und die nicht danach gefragt wurden, ob sie das wollen. Ich denke an die Menschen, die sexuell missbraucht worden sind. An all das, was das Missbrauchs-Gutachten der katholischen Kirche im Erzbistum München aufgedeckt hat. An die vielen menschlichen Schicksale, die sich dahinter verbergen. Und ich denke, wir als evangelische Kirche sollten hier nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Denn auch in der evangelischen Kirche gibt es Fälle von Missbrauch. Es ist wichtig, dass das alles aufgearbeitet wird – im Namen Jesu Christi, der auf der Seite der Opfer steht, und für den jeder Mensch Würde und Wert hat. Im Namen Jesu Christi, der die Liebe gelebt hat – Liebe in Freiheit und ohne Machtgefälle.

Jesus wundert sich über die Worte des Hauptmanns. Ich denke, er wundert sich darüber, dass dieser Mann jetzt von Befehl und Gehorsam redet. Befehl und Gehorsam – das passt nicht, wenn es um die Liebe geht. Das darf da keinen Platz haben. Und dass Jesus dann noch bittere Worte spricht gegen seine eigenen Volksgenossen, die nicht zum Glauben an ihn gefunden haben, das ändert nichts daran. Ich denke, Jesus ist hier einfach enttäuscht und verletzt von diesen Menschen aus seinem eigenen Volk. Jesus wundert sich über die Worte des Hauptmanns – und trotzdem: Es geht ja um diesen kranken Menschen, der im Dienst dieses Hauptmanns steht. Ein Mensch, der jetzt Hilfe braucht. Und Jesus hilft und heilt. Aber dem Hauptmann sagt er: „Dir geschehe, wie du geglaubt hast.“ Ich finde das wichtig, dass Jesus hier sagt: „wie du geglaubt hast“ und nicht: „weil du geglaubt hast“. Jesus übernimmt damit nicht die Denkart des Hauptmanns mit diesem Schema von Befehl und Gehorsam. Aber Jesus würdigt die Liebe, die den Hauptmann bewegt hat, sich an ihn zu wenden. Und im Heilen schenkt Jesus seine Liebe. Liebe überschreitet Grenzen und verbindet uns. Liebe kann heilen. Leben wir aus dieser Liebe!

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

 

 

 

 

 

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2. Sonntag nach Epiphanias

 

Predigt zum 2. Sonntag nach Epiphanias, 16. Januar 2022

1.Kor 2,1-10: Auch ich, meine Brüder und Schwestern, als ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten oder hoher Weisheit, euch das Geheimnis Gottes zu predigen. Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, ihn, den Gekreuzigten. Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern; und mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten der Weisheit, sondern im Erweis des Geistes und der Kraft, auf dass euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft. Von Weisheit reden wir aber unter den Vollkommenen; doch nicht von einer Weisheit dieser Welt, auch nicht der Herrscher dieser Welt, die vergehen. Sondern wir reden von der Weisheit Gottes, die im Geheimnis verborgen ist, die Gott vorherbestimmt hat vor aller Zeit zu unserer Herrlichkeit, die keiner von den Herrschern dieser Welt erkannt hat; denn wenn sie die erkannt hätten, hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt. Sondern wir reden, wie geschrieben steht (Jes 64,3): „Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.“ Uns aber hat es Gott offenbart durch den Geist; denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen Gottes. 

Liebe Mitchristen!

So reden möchte ich können, dass Menschen gebannt zuhören, dass sie alles um mich herum vergessen und auf meine Stimme hören. So reden möchte ich können, dass niemand mehr Zweifel hat, dass man meinen Worten bedingungslos vertraut. So sprechen möchte ich können, dass meine Stimme wie ein Weckruf klingt, der uns unseren christlichen Auftrag in Erinnerung ruft: Dass Gottes Reich kommt, und dass es schon jetzt anfängt, mitten unter uns – seid bereit!

So würde ich gerne reden können. Aber nur zu schnell stößt mein Wunschtraum an eng gesteckte Grenzen. Ich denke an Gespräche, die ich mit Menschen geführt habe, die am Glauben zweifeln. Und noch viel mehr denke ich an Gespräche mit Menschen, die am Leben verzweifeln. Immer wieder muss ich bei solchen Gesprächen erleben, wie ich mit meinen Worten und Argumenten an diese eng gesteckten Grenzen stoße: Der Glaube und die Hoffnung, aus denen ich lebe, das alles ist für diese Menschen nicht tragfähig. Da helfen auch nicht wohlgesetzte Worte und ausgefeilte Argumente. Das Einzige, was bleibt, sind die alten und vertrauten Worte und Geschichten von Jesus. Da ist die Geschichte von Weihnachten, vom Licht, das Gott in unsere dunkle Welt bringt. Von Weihnachten kommen wir her. Das Licht von Weihnachten soll weiterscheinen in unseren Alltag. Es soll der Welt erscheinen und erkennbar werden. Epiphanias – die Herrlichkeit des Herrn soll erkennbar werden, das ist die Bedeutung der jetzigen Zeit nach Weihnachten. So wie diese Herrlichkeit für die drei Weisen oder Könige erkennbar geworden ist, als sie von weither angereist sind, um das Jesuskind in der Krippe anzubeten. Ja, auch wir haben oft einen weiten Weg zur Krippe. Es ist schwer für uns, die Herrlichkeit des Herrn zu erkennen, in unserer zerrissenen Welt, in der es Krieg und Hunger gibt und wir weiter unter den Folgen der Pandemie leiden. Die Herrlichkeit des Herrn wird erfahrbar in einer armseligen Krippe. Und von dort führt der Weg ans Kreuz. „Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, ihn, den Gekreuzigten,“ sagt der Apostel Paulus in unserem Predigttext.

Paulus war ja zuerst ein Verfolger der jungen Christengemeinde gewesen. Seine Bekehrung zum christlichen Glauben war für ihn eine einschneidende und völlig überraschende Erfahrung. In einer Vision hat Paulus erkannt: Jesus Christus gibt meinem Leben Tiefe. In Jesus bin ich geborgen. In ihm bin ich angenommen – auch in meinen Schwächen, auch in meiner Verzweiflung, meiner Unsicherheit und Überheblichkeit. Diese Erkenntnis traf Paulus völlig unvorbereitet. Seine ganze Lebensplanung war damit über den Haufen geworfen. Alles, was ihm bisher im Leben heilig war, war auf einmal in Frage gestellt. Seine Weisheit und Gelehrsamkeit, seine Frömmigkeit und seine Herkunft aus gutem Hause – all das spielte auf einmal keine Rolle mehr. Sein neues Leben stand im Widerspruch zu allem, was er früher für wichtig und richtig gehalten hatte. Paulus war mit seiner Weisheit am Ende, und das, worauf er jetzt sein Leben aufbaute, hatte er bisher für Unsinn gehalten. Und in diesem vermeintlichen Unsinn hat Paulus für sich die wahre Weisheit entdeckt. Echter Lebenssinn und echte Tiefe ist verborgen in diesem Geheimnis Gottes, das Gott ihm durch seinen Geist offenbart hat. Diese Weisheit, die von Vielen für Unsinn gehalten wird, sie hat einen Namen: Jesus Christus, der Gekreuzigte. In ihm begibt sich Gott ins Leid, in die Schwäche, in den Tod. In ihm stellt sich Gott an die Seite der Ohnmächtigen, der Unscheinbaren und Verachteten.

Paulus hat nur diesen Gekreuzigten gepredigt. Auch in der Gemeinde in Korinth war das so. Aber diese Predigt ist nicht bei allen gut angekommen. Unscheinbar war dieser Paulus, ohne besondere Ausstrahlung, kein begnadeter Prediger. In den sozialen Medien hätte er wohl nicht viele Follower gehabt. Paulus redet den Menschen nicht nach dem Mund. Er setzt sich nicht in Szene – auch nicht mit wohlformulierten Worten und Argumenten. Paulus weiß: Letztlich bringt das alles nichts. Denn es geht ja nicht um uns und unsere Weisheit. Es geht um Gott und Gottes Weisheit. Verstehen Sie mich nicht falsch: Paulus lehnt die menschliche Weisheit und Lebenskunst nicht ab. Sie kann uns wichtige Erkenntnisse bringen. Sie kann uns helfen, unser Leben besser zu verstehen und zu bewältigen. Paulus knüpft an all das an. Aber er geht zugleich darüber hinaus in seiner Predigt von Jesus Christus, dem Gekreuzigten. Paulus erinnert uns daran: Das Kreuz ist es, das alle menschliche Weisheit überbietet und verwandelt. Im Kreuz liegt das Geheimnis der Welt verborgen. Paulus hat dieses Geheimnis in immer neuen Bildern beschrieben, die in seiner Glaubens- und Lebenserfahrung begründet waren – das Geheimnis des christlichen Glaubens.

Ich denke wieder an die Gespräche mit Menschen, die am Glauben zweifeln oder am Leben verzweifeln. Ist es nicht alles Unsinn, dass wir als Christen all unsere Hoffnung auf einen Gekreuzigten setzen? So fragen mich diese Menschen. „Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, ihn, den Gekreuzigten,“ sagt Paulus den Korinthern. Und ich denke, Paulus meint damit auch: Manchmal sind wir mit unserer Weisheit am Ende. Manchmal leiden wir daran, dass wir anderen in ihrem Zweifel und in ihrer Verzweiflung nicht weiterhelfen können. Manchmal können wir uns nur unsere Ratlosigkeit eingestehen. Aber wenn es so ist, dann bleibt uns die Hoffnung auf Jesus Christus – die Hoffnung, dass sich Gottes Nähe auch im Dunkel von Ratlosigkeit und Verzweiflung zeigt. Dafür steht das Kreuz. Im Kreuz fand Paulus neues Leben und Hoffnung. Im Kreuz leuchtet Gottes Herrlichkeit auf, auch in Dunkelheit und Schwachheit. Gegen alle Wahrscheinlichkeit und wider alle Erwartung. Daran wollen wir festhalten- an Jesus Christus, der für uns gekreuzigt und auferstanden ist.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

 

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Gedanken zum Sonntag

1. Sonntag nach dem Christfest

Predigt zum Jahresanfang, Sonntag 2. Januar 2022

1.Joh 1,1-4: Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens – und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist –,was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Und dies schreiben wir, auf dass unsere Freude vollkommen sei.

 

Liebe Mitchristen!

Ein neues Jahr ist da, ein neuer Anfang. „Guten Rutsch!“ Das wünschen wir uns gegenseitig zum Jahreswechsel. Ein merkwürdiger Wunsch ist das eigentlich. Niemand rutscht gerne aus. Und niemand wird gerne aufs Glatteis geführt. Warum wünschen wir uns also einen „Guten Rutsch“? Ist das so etwas, wie wenn man Jemandem beim Sport Hals- und Beinbruch wünscht und damit das genaue Gegenteil meint – dass er beim Ausüben seines manchmal auch gefährlichen Sports unverletzt bleiben möge? Mit dem „Guten Rutsch“ verhält es sich anders. Dieser Wunsch zum neuen Jahr hat nichts mit Ausrutschen und Glatteis zu tun. „Guten Rutsch“, das kommt von dem hebräischen Wort „Rosch“ „Rosch“ ist der Kopf oder der Anfang. „Rosch Haschana“ heißt der Neujahrstag. Ein neues Jahr hat begonnen. Der Anfang ist schon gemacht. Der Kopf ist schon da – wie bei der Geburt eines Kindes. Zuerst kommt der Kopf, und dann der Körper, mit Armen und Beinen, Bauchnabel und Nabelschnur. Wird es ein Junge oder ein Mädchen? In früheren Zeiten, als es noch keine Ultraschalluntersuchungen gab, da konnte man das noch nicht wissen, wenn erst der Kopf durch war bei der Geburt. Was wird das neue Jahr bringen? Wir wissen es nicht, wir stehen noch ganz am Anfang. Ein neues Jahr liegt vor uns, 365 Tage voller Leben. Neujahr haben wir gefeiert. Der Kopf ist schon durch. Aber alles andere ist uns noch verborgen.

Der Anfang ist schon gemacht. Davon schreibt unser Predigttext aus dem 1. Johannesbrief. Der Verfasser dieses Briefs schreibt voller Begeisterung von diesem neuen Anfang, der sein Leben verändert hat. Gottes Wort hat ihn innerlich berührt. Es hat ihm neue Zugänge zum Leben freigemacht – aus dem alltäglichen Einerlei hin zu Weite und Tiefe. Seine lange und einsame Suche nach dem, was im Leben wirklich Bestand hat, ist endlich an ihr Ziel gekommen. Er ist angekommen, er ist endlich am richtigen Ort, dort in der Gemeinschaft der Christen. Er verspürt eine tiefe innere Geborgenheit. Er hat die Konsequenz daraus gezogen und hat sich taufen lassen. Wie eine Geburt war das für ihn. Wie neu geboren fühlt er sich. Das alte Leben ist gestorben und zählt nicht mehr. Neues Leben liegt vor ihm – ewiges Leben. Große Freude erfüllt ihn, vollkommene Freude. Diese Freude kann und will er nicht für sich behalten. Er möchte sie weitergeben, nicht nur an die Menschen in seiner Nähe, auch an die in der Ferne – an fernen Orten und in fernen Zeiten. Und so schreibt er diesen Brief und trägt die Freude weiter, über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg. Ein Brief, der damals die Menschen an anderen Orten erreichte und uns heute in unserer Zeit, wenn wir diesen Brieftext in der Bibel lesen.

Der Anfang ist schon gemacht. So lesen wir es in diesem Brief. Von Anfang an war Gott für seine Menschen da. Von Anbeginn der Welt war er nicht nur der große und mächtige Gott, der über allem thront. Von Anfang an war da auch Jesus Christus, Gottes Sohn, der mitten unter uns gelebt hat als ein Mensch wie wir. Unsere Augen haben ihn gesehen, und unsere Hände haben ihn berührt. Und er hat uns berührt in unserer Seele, dieser von den Soldaten des Pilatus ans Kreuz genagelte Jude Jesus. Dieser Jesus, der den Zöllner Zachäus aus seinem Versteck in der Baumkrone herausgerufen hat. Er wollte bei ihm essen. Und der empörten Menschenmenge rief er zu: „Heute ist ein Festtag für dieses Haus! Wer will sich ärgern? Gehört nicht auch dieser Mann zu uns?“ Jesus, der uns damit sagt: Wenn du Menschen ändern willst, dann musst du sie lieben. Jesus, der damit zeigt: Das tut Gott. Tu also auch du das in deinem Umfeld. Tu dich zusammen mit deinem Nachbarn und mit dem Fremden, den alle verachten und übersehen. So wirst du Gott finden und deine eigene Heimat dazu. Worte, die uns in der Seele berühren. Worte, die unser Verhalten, ja unser ganzes Leben verändern können – über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg. Auch uns erreichen diese Worte, wenn wir sie heute in der Bibel lesen und uns in der Gemeinschaft der Christen versammeln, um diese Freude zu feiern. Auch wenn wir längst keine Augenzeugen mehr sind. Dieses Wort hat unsere Seele berührt – Jesus Christus, das Wort des Lebens, das auch unserem Leben Sinn und Ziel gibt und uns als christliche Gemeinschaft zusammenhält.

All das versteht sich nicht als christliche Schönfärberei. So einfach waren die Lebensumstände zu Zeiten der Römer nicht für die Menschen zur Zeit Jesu und auch nicht für die jungen christlichen Gemeinden. Und auch wir haben heute unsere Sorgen, wenn nun das neue Jahr vor uns liegt, und wir nicht wissen, was es bringen wird: Wie geht es weiter mit unserer Welt? Gibt es einen Ausweg aus der Klimakatastrophe? Wird die Pandemie endlich überwunden werden? Unser Vertrauen auf Gott ist kein Garantieschein für ein Leben ohne Probleme, nicht im persönlichen Bereich und auch nicht im globalen. Aber der Anfang ist gemacht. Der Kopf ist schon da. Jesus Christus ist in unsere Welt geboren. Er verbindet uns mit Gott, und wir sind mit ihm verbunden als seine Gemeinde. Was auch kommt im neuen Jahr an Schönem oder Schwerem, es ist Gottes Geschenk an uns. Nehmen wir es dankbar und mit Freude aus seiner Hand.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

 

 

 

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Predigt zum Jahresanfang


Predigt zum Jahresanfang, Sonntag 2. Januar 2022

1.Joh 1,1-4: Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens – und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist –,was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Und dies schreiben wir, auf dass unsere Freude vollkommen sei.


Liebe Mitchristen!

Ein neues Jahr ist da, ein neuer Anfang. „Guten Rutsch!“ Das wünschen wir uns gegenseitig zum Jahreswechsel. Ein merkwürdiger Wunsch ist das eigentlich. Niemand rutscht gerne aus. Und niemand wird gerne aufs Glatteis geführt. Warum wünschen wir uns also einen „Guten Rutsch“? Ist das so etwas, wie wenn man Jemandem beim Sport Hals- und Beinbruch wünscht und damit das genaue Gegenteil meint – dass er beim Ausüben seines manchmal auch gefährlichen Sports unverletzt bleiben möge? Mit dem „Guten Rutsch“ verhält es sich anders. Dieser Wunsch zum neuen Jahr hat nichts mit Ausrutschen und Glatteis zu tun. „Guten Rutsch“, das kommt von dem hebräischen Wort „Rosch“ „Rosch“ ist der Kopf oder der Anfang. „Rosch Haschana“ heißt der Neujahrstag. Ein neues Jahr hat begonnen. Der Anfang ist schon gemacht. Der Kopf ist schon da – wie bei der Geburt eines Kindes. Zuerst kommt der Kopf, und dann der Körper, mit Armen und Beinen, Bauchnabel und Nabelschnur. Wird es ein Junge oder ein Mädchen? In früheren Zeiten, als es noch keine Ultraschalluntersuchungen gab, da konnte man das noch nicht wissen, wenn erst der Kopf durch war bei der Geburt. Was wird das neue Jahr bringen? Wir wissen es nicht, wir stehen noch ganz am Anfang. Ein neues Jahr liegt vor uns, 365 Tage voller Leben. Neujahr haben wir gefeiert. Der Kopf ist schon durch. Aber alles andere ist uns noch verborgen. 

Der Anfang ist schon gemacht. Davon schreibt unser Predigttext aus dem 1. Johannesbrief. Der Verfasser dieses Briefs schreibt voller Begeisterung von diesem neuen Anfang, der sein Leben verändert hat. Gottes Wort hat ihn innerlich berührt. Es hat ihm neue Zugänge zum Leben freigemacht – aus dem alltäglichen Einerlei hin zu Weite und Tiefe. Seine lange und einsame Suche nach dem, was im Leben wirklich Bestand hat, ist endlich an ihr Ziel gekommen. Er ist angekommen, er ist endlich am richtigen Ort, dort in der Gemeinschaft der Christen. Er verspürt eine tiefe innere Geborgenheit. Er hat die Konsequenz daraus gezogen und hat sich taufen lassen. Wie eine Geburt war das für ihn. Wie neu geboren fühlt er sich. Das alte Leben ist gestorben und zählt nicht mehr. Neues Leben liegt vor ihm – ewiges Leben. Große Freude erfüllt ihn, vollkommene Freude. Diese Freude kann und will er nicht für sich behalten. Er möchte sie weitergeben, nicht nur an die Menschen in seiner Nähe, auch an die in der Ferne – an fernen Orten und in fernen Zeiten. Und so schreibt er diesen Brief und trägt die Freude weiter, über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg. Ein Brief, der damals die Menschen an anderen Orten erreichte und uns heute in unserer Zeit, wenn wir diesen Brieftext in der Bibel lesen. 

Der Anfang ist schon gemacht. So lesen wir es in diesem Brief. Von Anfang an war Gott für seine Menschen da. Von Anbeginn der Welt war er nicht nur der große und mächtige Gott, der über allem thront. Von Anfang an war da auch Jesus Christus, Gottes Sohn, der mitten unter uns gelebt hat als ein Mensch wie wir. Unsere Augen haben ihn gesehen, und unsere Hände haben ihn berührt. Und er hat uns berührt in unserer Seele, dieser von den Soldaten des Pilatus ans Kreuz genagelte Jude Jesus. Dieser Jesus, der den Zöllner Zachäus aus seinem Versteck in der Baumkrone herausgerufen hat. Er wollte bei ihm essen. Und der empörten Menschenmenge rief er zu: „Heute ist ein Festtag für dieses Haus! Wer will sich ärgern? Gehört nicht auch dieser Mann zu uns?“ Jesus, der uns damit sagt: Wenn du Menschen ändern willst, dann musst du sie lieben. Jesus, der damit zeigt: Das tut Gott. Tu also auch du das in deinem Umfeld. Tu dich zusammen mit deinem Nachbarn und mit dem Fremden, den alle verachten und übersehen. So wirst du Gott finden und deine eigene Heimat dazu. Worte, die uns in der Seele berühren. Worte, die unser Verhalten, ja unser ganzes Leben verändern können – über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg. Auch uns erreichen diese Worte, wenn wir sie heute in der Bibel lesen und uns in der Gemeinschaft der Christen versammeln, um diese Freude zu feiern. Auch wenn wir längst keine Augenzeugen mehr sind. Dieses Wort hat unsere Seele berührt – Jesus Christus, das Wort des Lebens, das auch unserem Leben Sinn und Ziel gibt und uns als christliche Gemeinschaft zusammenhält. 

All das versteht sich nicht als christliche Schönfärberei. So einfach waren die Lebensumstände zu Zeiten der Römer nicht für die Menschen zur Zeit Jesu und auch nicht für die jungen christlichen Gemeinden. Und auch wir haben heute unsere Sorgen, wenn nun das neue Jahr vor uns liegt, und wir nicht wissen, was es bringen wird: Wie geht es weiter mit unserer Welt? Gibt es einen Ausweg aus der Klimakatastrophe? Wird die Pandemie endlich überwunden werden? Unser Vertrauen auf Gott ist kein Garantieschein für ein Leben ohne Probleme, nicht im persönlichen Bereich und auch nicht im globalen. Aber der Anfang ist gemacht. Der Kopf ist schon da. Jesus Christus ist in unsere Welt geboren. Er verbindet uns mit Gott, und wir sind mit ihm verbunden als seine Gemeinde. Was auch kommt im neuen Jahr an Schönem oder Schwerem, es ist Gottes Geschenk an uns. Nehmen wir es dankbar und mit Freude aus seiner Hand. 

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

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Gedanken zum Sonntag

2. Advent


Wochenspruch für die 2. Woche im Advent:

Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. (Lukas 21,28)

Liebe Leserinnen und Leser,
Corona dauert. Und Corona hat uns verändert, verändert uns weiter.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen diesbezüglich geht. Aber ich selbst spüre diese Veränderungen immer deutlicher.
Wir haben über bald zwei Jahre hinweg gelernt, „kleinteiliger“ zu leben, mussten es lernen, weil immer weniger planbar war und ist in unserem Leben. Unübersichtlichkeit prägt noch immer unsere Wochen und Tage.
Worauf können wir uns noch verlassen? Höchste Flexibilität ist angesagt. Und hohe Frustrationstoleranz. Perspektiven fehlen, die über den Tag, die Woche, erst recht über den Monat hinausreichen.

Das ist auf Dauer anstrengend. Und verändert uns Menschen. Bei vielen liegen die Nerven blank. Sie sind dünnhäutiger geworden, reagieren schneller über und anders, als sie es vielleicht wollten. Andere finden sich erneut mit ihren Depressionen konfrontiert, von denen sie meinten, sie im vergangenen Sommer hinter sich gelassen zu haben. Und wiederum andere spüren große Einsamkeit und Trauer – und wissen nicht wohin damit.

Es sind unüberschaubare Zeiten. Erwartungen bleiben unerfüllt. Missverständnisse schleichen sich ein – und mitunter auch starke Gefühle wie zum Beispiel Wut, denen manche immer ungehemmter freien Lauf lassen.
Menschen sind verunsichert, enttäuscht, haben Angst und fragen sich, wohin das Ganze noch führen soll. Das Verständnis füreinander, das einst vermeintlich Selbstverständliche, steht zunehmend offener in Frage. Die Kommunikation ist schwieriger geworden, die Meinungen zeigen sich vielschichtiger. Und die Einfallstore für „alles Mögliche“ inklusive diverser Verschwörungstheorien sind weit offen.

Wie gut, dass wenigstens eines in diesen merkwürdigen und unsicheren Zeiten sicher ist: Gott kommt! Gott ist, bleibt und wird uns nahe sein.
Advent, Weihnachten – das ist eine einzige Botschaft: Gott kommt uns nahe. Gott selbst wird einer von uns – nämlich Mensch. Er will einer von uns sein, mit uns – egal wo wir gerade sind, egal wie wir uns gerade befinden.

Gott hat es so bei sich beschlossen: Ich will in – schon damals! – unruhigen Zeiten an einem armseligen Ort zur Welt kommen. Ich will mit euch im Gewirr der Zeiten leben und auf euch zugehen. Ich will mit euch an und unter den Kreuzen leiden, die ihr täglich zu tragen habt. Und ich verheiße euch eine Perspektive, von der ihr nicht zu träumen gewagt habt: Leben, neues Leben in meiner Nähe!

Mit Weihnachten hat alles begonnen – damals vor gut 2000 Jahren. Wir sind (noch) immer mittendrin und erwarten dereinst die Vollendung. Aber leben – das tun wir jetzt: Heute, morgen, hoffentlich auch übermorgen. Ich wünsche Ihnen und uns allen, dass wir das getrost tun können.
Und wenn wir immer wieder innehalten – und dann aufsehen, unser Haupt erheben und gen Himmel schauen, könnte das vielleicht sogar helfen, wieder festen Boden unter die Füße und eine Richtung zu bekommen. Denn Weihnachten erdet den Himmel – und richtet die Erde himmelwärts.

Pfarrerin Annegret Liebmann, Rottweil
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1. Advent

Predigt zum 1. Advent, 28. November 2021

Jeremia 23, 5-8: Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: „Der Herr ist unsere Gerechtigkeit“. Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der Herr, dass man nicht mehr sagen wird: „So wahr der Herr lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!“, sondern: „So wahr der Herr lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.“ Und sie sollen in ihrem Lande wohnen.

Liebe Mitchristen!

Der Gottesdienst am 1. Advent gibt schon einen Vorgeschmack auf Weihnachten. Die Kirche ist festlich geschmückt. Am Adventskranz brennt die erste Kerze. Festliche Musik erklingt, Adventslieder werden gesungen: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit. Advent ist eine festliche Zeit, eine Zeit der Vorfreude und der Erwartung. Bei Kindern ist das besonders deutlich. Schon lange freuen sie sich darauf, jetzt endlich das erste Päckchen am Adventskalender aufpacken zu dürfen. Jeder Tag ist ein neuer Schritt auf Weihnachten zu. Jeden Sonntag strahlt der Adventskranz heller – bis wir im Licht von Weihnachten stehen. Wie werden wir Weihnachten feiern können in diesem Jahr? Wird es möglich sein, dass wir zum Gottesdienst zusammenkommen? „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr.“ Es kommt die Zeit: Darauf hoffen auch wir in diesem Advent. Ja, wir hoffen mit einer Inbrunst, die den meisten von uns bisher unbekannt war. Ich selber fand es früher oft schwierig, zwischen all den Schokoladennikoläusen anderen Menschen den Sinn von Advent nahezubringen. Aber in unserer heutigen Zeit fühle ich mich mit den biblischen Personen, die Gott um Erlösung anflehen, sehr verbunden. Ich denke besonders an den Propheten Jeremia, von dem unser Predigttext stammt. Jeremia musste die Katastrophe seiner Zeit am eigenen Leib miterleben. Wie Jerusalem zerstört wurde und die Bewohner verschleppt wurden ins ferne Babylon. Wenn ich auf Jeremia und sein Leben sehe, dann erkenne ich, es gibt manchmal einfach kein Entkommen.  – für Jeremia nicht, der vor langer Zeit die Folgen von Krieg und verlorener Heimat aushalten musste, und auch nicht für uns heute. Heute kämpfen wir einen anderen Kampf, keinen militärischen. Wir kämpfen den Kampf gegen das Virus. 100.000 Menschen sind in Deutschland bisher an Corona gestorben. Diese Zahl macht mich betroffen.

Inmitten seiner düsteren Zeit spricht Jeremia von einer neuen Zukunft. Das ist etwas, worauf auch ich hoffe für den Advent 2021. Auch wenn ich mir diese neue Zukunft noch nicht richtig vorstellen kann. „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr.“ Die gute Zeit wird kommen. Aber sie ist noch nicht da. Advent ist die Zeit des Wartens: „Siehe, es kommt die Zeit, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will.“ So sagt es der Prophet Jeremia. Das heißt: Es ist noch nicht so weit. Da ist noch kein aufrechter Stamm oder kräftiger Ast. Da ist erstmal nur ein winzig kleiner Spross. Der, der kommt, der muss erst wachsen. Ein kleiner Trieb ist schon zu sehen am Baum. Ein Trieb, der viel enthält, aber fast noch nicht zu erkennen ist. Machen wir die Augen auf für diese kleinen Zeichen der Hoffnung – kleine Zeichen wie die erste Kerze, die am Adventskranz brennt!

Halten wir uns an den Propheten Jeremia und sein Gottvertrauen in dunklen Zeiten. Ja, er hat es erleben müssen: Geregelten Alltag und die vertrauten religiösen Feiern gibt es nach der Zerstörung Jerusalems nicht mehr. Uns heute treffen die Corona-Beschränkungen neben dem Alltag auch an den Sonntagen, wenn wir gemeinschaftlich unseren Glauben leben wollen. Sich neu erfinden müssen, fern ab von allem Gewohnten, diese Aufgabe hatten schon die Menschen zur Zeit Jeremias. Auch heute ist das immer wieder unsere Aufgabe – uns neu erfinden zu müssen, auch darin, wie wir unseren Glauben leben. Unseren Glauben zu leben auch außerhalb der Kirchenmauern, in unseren Familien, in unserem vertrauten Umfeld – das war schon immer unsere Aufgabe. Besinnen wir uns darauf in diesen Zeiten, in denen wir nicht in großer Runde zusammenkommen können. Zünden wir auch zuhause ein Licht an an unserem Adventskranz. Und halten wir fest an der Hoffnung, die uns trägt – in dunklen wie in hellen Zeiten. Denn: Wie auch immer wir in diesem Jahr Weihnachten feiern werden: Gott hält eine Zukunft für uns bereit, die diesen Namen verdient. Wir können es uns vielleicht noch nicht so richtig vorstellen, und es fällt uns vielleicht schwer, daran zu glauben: Aber Gott kommt! Gott kommt, um mit seiner Kraft und Liebe unsere Welt zu durchdringen.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

 

 

 

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Gedanken zum Sonntag

Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr

Predigt zum Volkstrauertag, 14. November 2021

2. Kor 5, 1-10: Denn wir wissen: Wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel. Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns danach, dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist, überkleidet werden, weil wir dann bekleidet und nicht nackt befunden werden. Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben. Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat. So sind wir denn allezeit getrost und wissen: Solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. Wir sind aber getrost und begehren sehr, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn. Darum setzen wir auch unsre Ehre darein, ob wir daheim sind oder in der Fremde, dass wir ihm wohlgefallen. Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeder empfange nach dem, was er getan hat im Leib, es sei gut oder böse.

 

Liebe Mitchristen,

„Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.“ Dieses Zitat von Oscar Wilde fällt mir ein zu unserem heutigen Predigttext. Wir alle sehnen uns nach einem guten Ende. Wir sehnen uns nach einem Ende der Corona-Pandemie, die gerade jetzt wieder so viele Menschenleben kostet und uns Einschränkungen abfordert. Wir sehnen uns nach einem Ende der CO2-Emissionen, die die Fieberkurve unseres Planeten nach oben treiben und Menschen das Dach über dem Kopf wegreißen, so wie bei der Flutkatastrophe im Ahrtal.

Alles wird gut – wie soll das gehen angesichts solch gravierender Probleme weltweit? Am Ende wird alles gut, sagt uns der Apostel Paulus in unserem Predigttext. Die, die kein Dach mehr über dem Kopf haben wegen Umweltkatastrophen, Krieg und Not, die werden wieder ein Zuhause finden. Ein Zuhause bei Gott. Ein ewiges Haus im Himmel. Das soll keine billige Vertröstung sein auf ein besseres Jenseits. Das soll kein falscher Trost sein, der es uns erspart, im Hier und Jetzt die drängenden Probleme unserer Welt anzupacken.

„Es mag sein, dass alles fällt, dass die Burgen dieser Welt um dich her in Trümmer brechen. Halte du den Glauben fest, dass dich Gott nicht fallen lässt: Er hält sein Versprechen.“ So dichtete Rudolf Alexander Schröder (Evangelisches Gesangbuch, Nr. 378) im Jahr 1939. In diesen dunklen Zeiten hat er festgehalten an der Hoffnung auf Gott und sein ewiges Reich und in dieser Hoffnung Trost gefunden. Die Hoffnung auf Gottes Reich, auf seinen offenen Himmel über uns, diese Hoffnung gibt uns die Kraft, hier in dieser Welt unseren Teil dazu beizutragen, dass die Erde bewohnbar bleibt und Menschen in Frieden miteinander leben können. Die Hoffnung auf Gottes Reich gibt mir die Gewissheit: Am Ende wird alles gut. Diese Hoffnung gibt mir Gelassenheit und bewahrt mich davor, frustriert aufzugeben in meinen Bemühungen.

Der Apostel Paulus verwendet für diese christliche Hoffnung das Symbol des Hauses – ein ganz elementares Bild. Das Haus gibt dem Menschen Schutz und Heimat. Unser Haus, unser Zuhause, das ist keine Nebensache für uns. Wie viel Zeit, Geld und persönlichen Einsatz verwenden wir darauf! Die Sehnsucht nach Geborgenheit wird durch ein Haus erfüllt: Wir haben ein Haus, ein Zuhause.

Heute ist Volkstrauertag. Heute denken wir an die Menschen, die in den Kriegen in der Vergangenheit und in der Gegenwart alles verloren haben: Ihr Leben, ihre Lieben, ihr Zuhause. Pfarrer Theophil Askani hat seine Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg so aufgeschrieben: „Mir ist immer vor Augen, wie wir in der Gefangenschaft, nach Monaten unter freiem Himmel, ein einziges Mal in einer Ruine, die kaum mannshoch war, ein Brett über dem Kopf hatten, als sei’s ein Dach – ein einziges Brett. Jeder durfte mal drunterstehen.“

Paulus kennt die symbolische Bedeutung des Hauses. Deswegen verwendet er das Bild vom Haus, wenn er vom Tod redet. Paulus weiß: Die Sehnsucht nach Geborgenheit, die wir haben, kann in diesem Leben nie ganz gestillt werden. Auch die schönsten Häuser zerfallen, und auch die stärksten Menschen müssen sterben, und ihr Körper vergeht. Paulus kann sich an das schwierige Thema Tod heranwagen, weil er als sterblicher Mensch an die ewige Geborgenheit bei Gott glaubt. In seinem von Krankheit gezeichneten Körper erwartet Paulus den Auferstehungsleib -einen neuen Körper, den Gott ihm in seiner ewigen Welt schenken wird. So ist das Haus für Paulus auch ein Bild für den menschlichen Körper. Den vergänglichen Körper, den wir hier in dieser Welt haben, nennt Paulus unser irdisches Haus. Dieses irdische Haus ist für Paulus nur eine einfache Hütte. Aber wenn diese Hütte abgebrochen wird, dann wartet ein Neubau auf uns: Ein neuer Körper, unser ewiges Haus bei Gott im Himmel. Wie wir uns morgens unsere Kleider anziehen, so einfach wird es dann sein, diesen neuen Körper anzuziehen. Niemand muss dann mehr nackt und schutzlos sein, ohne wärmende Kleidung und ohne ein Dach über dem Kopf.

Ich denke an die Bilder von der polnisch-belarussischen Grenze. An die Menschen, die auf der Flucht sind und nun dort festsitzen, bei eisigen Temperaturen. Menschen, die zum Spielball politischer Interessen geworden sind – ohne Haus, ohne wärmende Kleidung. Aber bei Gott zählt jedes Menschenleben. Und wir haben die Aufgabe, hier in dieser Welt und in unserer Zeit menschenwürdig zu handeln. „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ So sagt es uns Jesus in Matthäus 25,40. Gott ist es nicht egal, wie wir unser Leben gestalten, wie wir mit anderen Menschen umgehen, wie wir uns einsetzen für die Zukunft unserer Erde. „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeder empfange nach dem was er getan hat im Leib, es sei gut oder böse.“ So schreibt es Paulus in unserem Predigttext.

Aber Paulus will hier nicht mit erhobenem Zeigefinger dastehen und uns Angst machen. Paulus vertraut darauf: Nach diesem irdischen Leben steht Gottes Neubau schon für uns bereit – neues Leben bei Gott. Woher nimmt Paulus dieses Vertrauen, bei all unserer menschlichen Unzulänglichkeit? Denn bei allen Bemühungen, an denen wir festhalten sollen: Wir werden es nie schaffen, allen Menschen gerecht zu werden, die unsere Hilfe bräuchten. Dass trotzdem Gottes Neubau schon für uns bereit steht in Gottes neuer Welt, das haben wir allein Jesus Christus zu verdanken. Jesus Christus, der für uns gestorben und auferstanden ist. Jesus Christus, der unsere Sünden auf sich genommen hat durch seinen Tod am Kreuz. Denn Gottes Gnade ist größer als unsere menschliche Unzulänglichkeit.

Mir fällt dazu eine geistliche Übung ein, die von Ignatius von Loyola stammt. Sie nennt sich „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ und geht so: Wenn ein Tag zu Ende geht, lässt man ihn in Gedanken noch einmal an sich vorüberziehen, mit ganzer Aufmerksamkeit: Was war gut? Was war nicht gut, und warum? Wie kann ich, was heute nicht gut war, morgen besser machen? Kann ich morgen etwas wiedergutmachen, was ich heute versäumt habe? Was Ignatius von Loyola ganz wichtig war bei dieser Übung: Wenn ich das, was heute war, in den Blick nehme, dann soll ich es mit den liebenden Augen Gottes in den Blick nehmen. Die liebenden Augen Gottes verdammen nicht. Die liebenden Augen Gottes blicken tiefer als ein oberflächliches Urteil. Die liebenden Augen Gottes ermöglichen es mir, mich zu verändern. Denn Gottes Liebe kennt mein ganzes Elend, das hinter meiner Unzulänglichkeit steht. Gottes Liebe weiß auch, wie oft ich mich bemüht habe, bevor es dann doch nicht geklappt hat. Und wenn ich mich am Ende eines Tages so aufmerksam mit den liebenden Augen Gottes betrachte, dann gibt mich das Kraft und Zuversicht für den neuen Tag.

In diesem Sinn sprechen wir als Christinnen und Christen vom letzten Gericht. Ja, es gibt verfehltes Leben. Und die Erkenntnis ist hart und bitter, wenn einem das klar wird. Niemand kann uns diese bittere Erkenntnis abnehmen. Aber als Christin glaube ich an eine Liebe, die größer ist als all unser Scheitern und Versagen – Gottes Liebe zu uns, die alle menschlichen Maßstäbe übersteigt.

„Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.“ Diese Worte wollen unser Gewissen wachhalten und uns daran erinnern, dass es nicht egal ist, wie wir unser Leben gestalten, dass wir Verantwortung tragen für unsere Erde und für unsere Mitmenschen in nah und fern. Aber wir dürfen darauf vertrauen: Der, der auf dem Richterstuhl sitzt, ist Jesus Christus, der sein Leben für uns dahingegeben hat in seiner unendlichen Liebe. Niemanden will er verloren geben. Und der Neubau steht schon bereit, in den wir am Ende unserer Tage einziehen dürfen bei Gott. Denn am Ende wird alles gut.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer