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Gedanken zum Sonntag

13. Sonntag nach Trinitatis

 

Predigt zum 13. Sonntag nach Trinitatis, 11. September 2022

Lk 10, 25-37: Da kam ein Schriftgelehrter und wollte Jesus auf die Probe stellen. Er fragte ihn: »Lehrer, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben bekomme?« Jesus fragte zurück: »Was steht im Gesetz? Was liest du da?« Der Schriftgelehrte antwortete: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken.« Und: »Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.« Jesus sagte zu ihm: »Du hast richtig geantwortet. Halte dich daran und du wirst leben.« Aber der Schriftgelehrte wollte sich verteidigen. Deshalb sagte er zu Jesus: »Wer ist denn mein Mitmensch?« Jesus erwiderte: »Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho. Unterwegs wurde er von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn bis aufs Hemd aus und schlugen ihn zusammen. Dann machten sie sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Nun kam zufällig ein Priester denselben Weg herab. Er sah den Verwundeten und ging vorbei. Genauso machte es ein Levit, als er zu der Stelle kam: Er sah den Verwundeten und ging vorbei. Aber dann kam ein Samariter dorthin, der auf der Reise war. Als er den Verwundeten sah, hatte er Mitleid mit ihm. Er ging zu ihm hin, behandelte seine Wunden mit Öl und Wein und verband sie. Dann setzte er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn in ein Gasthaus und pflegte ihn. Am nächsten Tag holte er zwei Silberstücke hervor, gab sie dem Wirt und sagte: ›Pflege den Verwundeten! Wenn es mehr kostet, werde ich es dir geben, wenn ich wiederkomme.‹ Was meinst du: Wer von den dreien ist dem Mann, der von den Räubern überfallen wurde, als Mitmensch begegnet?« Der Schriftgelehrte antwortete: »Der Mitleid hatte und sich um ihn gekümmert hat.« Da sagte Jesus zu ihm: »Dann geh und mach es ebenso.«

Liebe Mitchristen!

Waren Sie diesen Sommer auf Reisen? Ich war in den Sommerferien mit meinem Sohn in Paris. Unser Hotel lag eher am Rand dieser großen Stadt. So waren wir viel mit der Metro unterwegs. Ich war beeindruckt, mit welcher Geschwindigkeit diese Züge durch die unterirdischen Tunnel rasten. Immer wieder missten wir aufpassen, dass wir die französischen Haltestellenansagen richtig verstehen und unsere Ausstiegsstation nicht verpassen. Aber bei den Metrostationen an den großen Sehenswürdigkeiten wie dem Eiffelturm oder dem Louvre hatten wir dieses Problem nicht. Vor diesen Haltepunkten gab es in der Metro auch eine deutsche Durchsage: „Achtung vor Taschendieben!“ tönte es da aus dem Lautsprecher. „Achtung vor Taschendieben“ – eine wichtige Durchsage. In Mailand habe ich das einmal erlebt, das meinem Freund, mit dem ich unterwegs war, beinahe der Geldbeutel gestohlen worden wäre. Wir wollten zum Dom und waren gerade in die U-Bahn eingestiegen. Da steigt eine Frau zu. Sie zeigt meinem Freund einen U-Bahn- Plan und die Station, wo sie hinfahren möchte: Ist das hier die richtige U-Bahn? Mein Freund will dieser Frau helfen und schaut mit ihr auf den Plan. Währenddessen versucht eine andere Frau, ihm den Geldbeutel aus der Hosentasche zu ziehen. Zum Glück hat er das noch rechtzeitig bemerkt. Die Frau mit dem U-Bahn- Plan ist dann blitzschnell wieder ausgestiegen, die Türen haben sich geschlossen und die U-Bahn ist abgefahren. Die beiden Taschendiebinnen sind an der Haltestelle zurückgeblieben, wo sie auf ihr nächstes Opfer warten konnten. „Vorsicht vor Taschendieben!“ Das ist eine wichtige Warnung. Gut, dass es in der Pariser Metro diese Durchsage gibt an den Stationen, wo viele Touristen unterwegs sind.

Ob es solche Warnhinweise auch früher gab, dort wo viele Reisende unterwegs waren und es gefährlich werden konnte? „Vorsicht vor Raubüberfällen!“ Ich denke, für die Straße von Jerusalem nach Jericho gab es bestimmt solche Warnungen. Immer wieder passierte hier was. Denn diese 27 Kilometer lange Tagesreise führte durch die Einöde, durch unübersichtliches Gelände. In diesem einsamen Tal lebten Leute, die in der Gesellschaft keinen Platz gefunden hatten. Hier taten sie sich zusammen und bestritten ihren Lebensunterhalt damit, dass sie ahnungslose Reisende ausraubten. Jesus wird die Warnungen vor dieser einsamen Landstraße sicherlich gekannt haben. Er will einem frommen Mann erklären, wie Mitmenschlichkeit und gelebter Glaube aussehen. Kein Wunder, dass Jesus dafür die Straße von Jerusalem nach Jericho als Beispiel nimmt: Dort, wo es immer wieder passiert, dass einer ausgeraubt wird und auf der Strecke bleibt.

Stellen wir uns also vor, es passiert mal wieder was auf dieser gefährlichen Straße, sagt Jesus. Stellen wir uns vor, da liegt mal wieder einer im Straßengraben. Die Räuber haben ihm alles genommen – nicht nur den Geldbeutel und die wertvollen Waren, die er als Geschäftsreisender vielleicht bei sich hatte. Sogar seine Kleider haben sie ihm genommen, ja und beinahe auch sein Leben. Wenn der dort liegen bleibt in der Hitze des Tages, dann wird er mit seinen Verletzungen die Nacht nicht überleben. Ein Glück also, dass diese einsame Landstraße nicht komplett menschenleer ist. Da kommen noch andere Reisende vorbei – zuerst ein Priester. Wahrscheinlich ist er auf dem Weg zur Arbeit. Er ist unterwegs von seinem Heimatort zum Tempel in Jerusalem. Warum hält er nicht an und hilft dem schwer verletzten Mann? Vielleicht denkt er: Ich muss ja den Gottesdienst im Tempel in Jerusalem halten. Da kann ich doch nicht dreckig und blutverschmiert ankommen, weil ich unterwegs einen Verletzten versorgt habe. Wenn ich ihn anfasse, muss ich eine Woche in Quarantäne und darf nicht im Tempel arbeiten. Also geht er weiter. Zum Glück kommt da noch einmal jemand vorbei, ein Levit. Er macht die Schriftlesung beim Gottesdienst im Jerusalemer Tempel. Aber er geht auch weiter. Vielleicht hat er dabei dieselben Gedanken wie der Priester. Oder es ist einfach schon spät, und er hat keine Zeit.

Es ist einfach, diese beiden frommen Männer für ihr Verhalten zu verurteilen und zu denken: Natürlich würde ich es nicht so machen wie diese beiden. Natürlich würde ich anhalten und mich um den Verwundeten kümmern. Natürlich würde ich ihm helfen oder Hilfe holen für ihn. Aber mache ich es mir nicht doch zu einfach, wenn ich so denke? Kann ich von mir wirklich sicher sagen, dass ich helfen und nicht vorbeigehen würde? Ich denke daran, wie dicht getaktet mein Alltag oft ist, wie ich von einem Termin zum nächsten eile. Meine To-Do-Liste ist lang, und die Zeit ist knapp. Womöglich wäre ich so mit Anderem beschäftigt, dass ich es gar nicht bemerken würde, dass da einer am Wegesrand liegt und dringend meine Hilfe braucht. Womöglich hätte ich Probleme damit, mich von ihm aus dem Konzept bringen zu lassen, meine ganze Tagesplanung über den Haufen zu werfen wegen ihm.

Der Mann aus Samaria, den Jesus in seiner Beispielgeschichte als Dritten vorbeikommen lässt, der hatte an diesem Tag bestimmt auch noch Anderes geplant. Vielleicht wollte er mit seinem Reittier zum Markt. Oder er hatte einen wichtigen Geschäftstermin. Aber in diesem Moment zählt das nicht für ihn. Auch dass dieser schwerverletzte Mann eine andere Religion hat, spielt für ihn jetzt keine Rolle. Er selbst ist Samariter, und dieser Verwundete da ist Jude. Eigentlich hatten Samariter und Juden damals nichts zu schaffen miteinander. Aber das alles ist dem Mann aus Samaria egal in diesem Augenblick. Nur eines zählt für ihn: Da liegt einer am Boden und braucht meine Hilfe. Also hält der Samariter an, versorgt die Wunden des Verletzten, setzt ihn auf sein Reittier und bringt ihn in ein Gasthaus. Am nächsten Morgen muss der Mann aus Samaria weiter. Aber er lässt dem Wirt ausreichend Geld da, damit der den Verletzten einige Tage pflegen kann, bis er wieder alleine klarkommt.

„Man vergisst nie, dass es um Menschenleben geht.“ So haben es die Gosheimer Feuerwehrleute ausgedrückt bei einem Interview, dass gestern in der Zeitung stand. An solche Menschen erinnert mich dieser Mann aus Samaria: An Menschen, die bereit sind, sich aus ihrem Alltag herausreißen zu lassen und anderen aus der Not zu helfen. Ein Glück, dass es solche Menschen gibt, die zu jeder Tag- und Nachtzeit dazu bereit sind, so wie unsere Feuerwehrleute. Ein Glück, dass es Menschen gibt, die für andere da sind – in unseren Krankenhäusern und Pflegeheimen, in Kindergärten und Schulen, in den Familien und Nachbarschaften und an vielen anderen Orten. Halten wir die Augen offen, um diese Menschen wahrzunehmen und zu würdigen, was sie für uns alle leisten! Und halten wir die Augen offen für unsere Mitmenschen, die gerade jetzt unsere Hilfe brauchen. Rücken wir enger zusammen, wenn der Herbst kommt und dann der Winter, wo viele nicht wissen, wie sie ihre Heizkosten bezahlen sollen. Halten wir die Augen offen für die Not der Menschen in Pakistan, die bei den schweren Überschwemmungen alles verloren haben und unsere Hilfe brauchen. Setzen wir uns für den Klimaschutz ein, und ändern wir unsere klimaschädigenden Lebensgewohnheiten – damit solche schrecklichen Unwetter in Zukunft nicht noch mehr Menschenleben kosten. Lassen wir uns ermutigen von dieser Geschichte, die Jesus erzählt. Denn gerade das ist gelebter Glaube – wenn wir füreinander da sind und den, der uns braucht, nicht übersehen. Genau damit geben wir Gott die Ehre. So wie es unser Predigttext sagt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken. Und: Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst. Halte dich daran und du wirst leben.“

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer