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Gedanken zum Sonntag

Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr

 

Predigt vom Sonntag, 13. November 2022

Liebe Mitchristen!

In der vergangenen Woche war ich mit den anderen Pfarrerinnen und Pfarrern unseres Tuttlinger Kirchenbezirks unterwegs. Alle zwei Jahre machen wir eine solche Fahrt. Dieses Mal ging die Reise nach Rom. Was mich in Rom besonders beeindruckt hat, war die Sixtinische Kapelle. Michelangelo hat diese Kapelle ausgemalt: An der Decke die Schöpfungsgeschichte mit dem berühmten Bild von der Erschaffung Adams, und an der Stirnwand das Jüngste Gericht. An diesem Gemälde vom Jüngsten Gericht ist mein Blick länger hängen geblieben als an den Deckengemälden. Ich denke, das war nicht nur deswegen so, weil man dieses Bild bequemer anschauen kann, ohne dass man Genickstarre bekommt. Woran ist mein Blick hängen geblieben bei diesem Bild vom Jüngsten Gericht? Es waren nicht die Engel mit ihren Posaunen, auch nicht die Menschen, die aus ihren Gräbern aufstehen. Es war auch nicht die große Schar der Apostel und Glaubenszeugen. Nein, mein Blick ist hängen geblieben an Jesus Christus, den Michelangelo in die Mitte dieses Gemäldes gemalt hat: Jesus Christus als Weltenrichter. Bei Michelangelo steht er auf einer Wolke. An seinen Füßen sieht man die Wunden, wo sie die Nägel durchgeschlagen haben, als sie ihn gekreuzigt haben. Seitlich an der Brust sieht man den Lanzenstich der Soldaten. Neben Jesus ist Maria. Das alles ist vertraut. Das kenne ich auch von anderen Bildern, auf denen Jesus Christus dargestellt ist. Und doch bleibt mir dieser Christus seltsam fremd mit seinen dynamischen Handbewegungen und seinem jugendlichen Gesicht: Das soll Jesus Christus als Weltenrichter sein? Ich hatte da sonst immer einen gestrengen Christus mit Bart vor Augen, der auf seinem Thron in den Wolken sitzt.

Wie stellen wir uns Jesus Christus, wie stellen wir uns Gott als Richter vor? „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi,“ heißt es in 2. Kor 5,10. Gott als Richter- Jesus Christus selbst hat dazu eine Geschichte erzählt in Lukas 18, 2-8:

»In einer Stadt lebte ein Richter. Der hatte keine Achtung vor Gott und nahm auf keinen Menschen Rücksicht. In der gleichen Stadt wohnte auch eine Witwe. Die kam immer wieder zu ihm und sagte: ›Verhilf mir zu meinem Recht gegenüber meinem Gegner.‹ Lange Zeit wollte sich der Richter nicht darum kümmern. Doch dann sagte er sich: ›Ich habe zwar keine Achtung vor Gott und ich nehme auf keinen Menschen Rücksicht. Aber diese Witwe ist mir lästig. Deshalb will ich ihr zu ihrem Recht verhelfen. Sonst verpasst sie mir am Ende noch einen Schlag ins Gesicht.‹« Und Jesus sagt weiter: »Hört genau hin, was der ungerechte Richter hier sagt! Wird Gott dann nicht umso mehr denen zu ihrem Recht verhelfen, die er erwählt hat –und die Tag und Nacht zu ihm rufen? Wird er sie etwa lange warten lassen? Das sage ich euch: Er wird ihnen schon bald zu ihrem Recht verhelfen! Aber wenn der Menschensohn kommt, wird er so einen Glauben auf der Erde finden?«

Was für eine Geschichte, und was für ein Richter! Ich frage mich, wie man so einen schlechten Richter mit Gott vergleichen kann. Dieser Richter ist rücksichtslos, faul und korrupt. Ja, wenn man ihm Bestechungsgeschenke macht, dann kommt man bei ihm sicherlich schnell zum Ziel. Aber die Witwe in der Geschichte ist arm. Sie hat nichts, was die dem Richter geben könnte. Sie hat nur ihre Stimme. Und mit der wird sie laut, immer wieder. Es ist nicht unverschämt oder unverfroren, dass sie das macht. Sie ist auch keine bittende Witwe, wie wir in manchen Bibelüberschriften lesen. Diese Witwe fordert nur das Recht ein, das ihr zusteht. Sie will einfach nur Gerechtigkeit. Endlich Ruhe von ihrem Gegner, der sie unter Druck setzt und ihr das Leben so schwer, ja beinahe unmöglich macht. So, wie es ist, kann es nicht weitergehen für diese Frau. Sie braucht Hilfe. Und der Einzige, der ihr helfen kann, ist nun mal dieser schlechte Richter. Also kommt sie immer und immer wieder und trägt ihm ihr Anliegen vor. Ich bewundere diese Frau – ihre Geduld und Beharrlichkeit. Ich bewundere an ihr, dass sie nicht aufgibt, auch wenn es aussichtslos scheint. Und tatsächlich: Irgendwann ist der Richter so genervt von dieser Witwe, dass er ihr schließlich doch zu ihrem Recht verhilft.

Ist dieser Richter ein Bild für Gott? So ist Gott doch gar nicht! Gott hört doch die Schreie der Unterdrückten und Gequälten. Gott lässt diese Menschen doch nicht allein in ihrer Not. Ich muss nachdenken über diese Geschichte. Und ich denke auch an das viele und große Elend, dass es auf der Welt gibt. Ich denke an die vielen Menschen, die keine Hilfe bekommen. Manche haben lange darum gebetet. Aber ihre Not ist nicht weniger geworden deswegen. Was sollen wir dann tun, wenn es uns so geht, fragen die Jünger Jesus. Weiterbeten, sagt Jesus. Gott hat euch nicht vergessen. Bald wird es anders werden. Bald wird Gott für Gerechtigkeit sorgen – wenn der Menschensohn wiederkommt auf die Erde. Und bis dahin sollt ihr denen zur Seite stehen, die schwach sind und in Not geraten.

Ja, das ist unsere Aufgabe als Christinnen und Christen: An der Seite der Witwe zu stehen, die unbeirrt an die Ordnungen glaubt, die mutig ist im Widerstand und lautstark in ihren Forderungen. An der Seite der Witwe sollen wir stehen, die ihr Recht einfordert, und die Recht bekommen wird. Und ich denke, genau das ist es, was Lukas meint, wenn er vom Beten schreibt. Beten, das bedeutet: Das Unrecht erkennen und benennen. Sich nicht damit abfinden. Der Welt und Gott mutig entgegentreten. Beten, das bedeutet: Auf das Recht pochen, das uns zusteht – als Bewohnerinnen und Bewohner der Welt und des Reiches Gottes. Beten, das bedeutet: Gott beim Wort zu nehmen und bei seinen Zusagen; vertrauensvoll und hartnäckig, fordernd und fördernd. Denn eines Tages werden wir es erleben. Dann wird alles vollendet sein. Dann wird es Recht und Gerechtigkeit geben für alle, die Unrecht erleiden. Dann wird es einen gerechten Richter geben für die Lebenden und die Toten. Jesus Christus wird dieser Richter sein. Und vielleicht hat Michelangelo ja Recht damit, dass er sich da keinen strengen Mann mit Bart auf einem Thron vorstellt, wenn er an Christus als Weltenrichter denkt. Jesus Christus der Weltenrichter ist dann keine furchterregende Gestalt. Er ist in Bewegung. Er geht auf die Menschen zu. Er hört und versteht. Auf sein Recht und seine Gerechtigkeit können wir vertrauen, auch wenn wir es jetzt noch nicht in Vollendung sehen.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer