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Gedanken zum Sonntag

1. Sonntag nach Epiphanias

 

 

Predigt zum 1. Sonntag nach Epiphanias, 8. Januar 2023

Joh 1, 29-34: Am nächsten Tag sieht Johannes, dass Jesus zu ihm kommt, und spricht: Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt! Dieser ist’s, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, der vor mir gewesen ist, denn er war eher als ich. Und ich kannte ihn nicht. Aber damit er offenbar werde für Israel, darum bin ich gekommen zu taufen mit Wasser.

Und Johannes bezeugte es und sprach: Ich sah, dass der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht. Aber der mich gesandt hat zu taufen mit Wasser, der sprach zu mir: Auf welchen du siehst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, der ist’s, der mit dem Heiligen Geist tauft. Und ich habe es gesehen und bezeugt: Dieser ist Gottes Sohn.

 

Liebe Mitchristen!

Gestern habe ich in meiner Wohnung die Weihnachtssachen weggeräumt. Jetzt ist alles wieder gut verstaut in einer Kiste auf dem Dachboden. Das Wohnzimmer sieht ein bisschen kahl aus ohne den Christbaum, und im Esszimmer hat mein Sohn die Weihnachtsdekoration vermisst, die wir auf dem Esstisch liegen hatten. Was bleibt von dem Glanz von Weihnachten? Was nehmen wir mit in dieses Jahr, das nun begonnen hat? Schwierig hat es begonnen, dieses Jahr. In der Ukraine haben die Waffen nicht geschwiegen während des orthodoxen Weihnachtsfestes. Was bleibt da von dem Glanz von Weihnachten, angesichts dieses brutalen Kriegs, angesichts von so viel Zerstörung, Not und Tod? Weihnachten haben sie trotzdem gefeiert in der Ukraine, jetzt am 7. Januar mit all dem Glanz, der zu einem orthodoxen Weihnachtsfest dazugehört. Ich denke an eine junge Frau, die in den Nachrichten interviewt wurde, dort in der Ukraine vor einer Kirche. Gerade in diesem Jahr war der Weihnachtsgottesdienst besonders wichtig für diese Frau, hat sie erzählt.

„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (1. Mose 16,13) Das ist die Jahreslosung für dieses Jahr. Dieses Bibelwort soll als Überschrift über diesem Jahr stehen. Ein Bibelwort, gesprochen von einer jungen Frau in Bedrängnis und Not. Auch die junge Frau, die ich in den Nachrichten gesehen habe, hat das offensichtlich so erleben dürfen in dem Weihnachtsgottesdienst, den sie in diesen Tagen in der Ukraine besucht hat: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Gott sieht uns. Er sieht das Elend in dieser Welt. Deswegen schickt er uns seinen Sohn- Jesus Christus, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt. Und immer wieder gibt es Zeugen dafür. Menschen, die diesen Gland von Weihnachten mitnehmen in ihr Leben, auch und gerade in dunklen Zeiten. Zeugen wie diese junge Frau aus der Ukraine. Zeugen wie Johannes der Täufer. Auch er hat etwas von Gottes Glanz gesehen. Vom Himmel herunter hat er ihn kommen sehen- leuchtend weiß wie eine Taube. So hat Johannes den Heiligen Geist auf Jesus herabkommen sehen: Gott kommt auf die Erde – Gottes Lamm, Jesus Christus.

Es gibt ein Bild, das diese Vision des Täufers auf das genaueste wiedergibt. Das Original hängt im Museum Unterlinden. Es stellt eine Kreuzigungsszene dar, wie sie in der christlichen Bildtradition häufig gemalt wurde. Und doch ist es einzigartig in seiner Darstellungsweise und es ist zu Recht weltberühmt. Es handelt sich um den Isenheimer Altar, gemalt in den Jahren 1512–1516 von Mathis Nithard, genannt Grünewald. Dieses Bild gibt es als Kopie auch bei uns in Wehingen. Hier in der evangelischen Kirchengemeinde hängt es normalerweise im Gemeindesaal über dem Klavier. Genau wie das Original ist ein dreiflügeliges Altarbild, nur kleiner. Auf der Rückseite findet sich eine Inschrift: „Geschenk des Holzgerlinger Posaunenchors der evangelischen Kirchengemeinde Wehingen als Altarbild für den Betsaal anlässlich des Besuchs des Holzgerlinger Posaunenchors in Wehingen am 19./ 20. Juli 1958 überreicht.“ 1958 war die evangelische Kirchengemeinde eine sehr kleine Gemeinde. Ihre Gottesdienste feierte sie in einem Betsaal. Und bei jedem dieser Gottesdienste hatten die Feiernden dieses Altarbild vor Augen:

Im Zentrum hängt überlebensgroß der Gekreuzigte vor einem dunklen Hintergrund. Links von ihm ist eine Figurengruppe zu sehen: die kniende Maria Magdalena, erkennbar am Salbgefäß, das neben ihr steht, rechts neben dem Kreuz Maria, die Mutter Jesu, die vom Jünger Johannes im Arm gehalten wird. Allen drei ist der Schmerz anzusehen, den sie empfinden.

Rechts vom Kreuz steht der Täufer. In der linken Hand hält er ein Buch; vermutlich ist es die Bibel. Natürlich ist das nicht historisch, denn zu Zeiten Jesu gab es die Bibel noch nicht. Es gab nur Schriftrollen mit den Büchern, die wir später das „Alte Testament“ nennen. Aber auch Johannes der Täufer selbst kann damals nicht wirklich unter dem Kreuz von Jesus gestanden sein. Zur Zeit der Kreuzigung war Johannes schon tot; ermordet durch Herodes. Wahrscheinlich hat der Maler des Bildes das auch gewusst. Aber es gibt Wahrheiten, die sind wichtiger als die Historie. Was an Johannes dem Täufer auf dem Bild besonders auffällt, das ist sein überlanger Zeigefinger. Mit diesem Zeigefinger deutet auf Jesus am Kreuz. Zu seinen Füßen sehen wir ein Lamm. „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt,“ sagt Johannes. Seine Haltung ist aufrecht. Anders als die Figurengruppe auf der linken Seite ist er nicht vom Schmerz niedergebeugt. Johannes weiß: So steht es in der Bibel. So muss es erfüllt werden.

Und so zeigt er auf Jesus am Kreuz. Es ist auffällig, wie der Gekreuzigte hier dargestellt wird. Seine langen spitzen Finger, die sich in seiner Dornenkrone zu wiederholen scheinen, sein nach links herabgesunkenem Kopf; alles an ihm scheint Schmerz zu sein. Das Jesus hier so schmerzverzerrt dargestellt wird, hat einen besonderen Grund: Der Altar, auf dem das Bild gemalt ist, stand ursprünglich in einem Hospital in Isenheim. Dieses Hospital war für Menschen gedacht, die an Mutterkorn erkrankt waren. Mutterkorn ist ein giftiger Pilz im Getreide, der im Mittelalter ein großes Problem war. Viele Menschen sind davon krank geworden. Nach und nach sterben Finger und Zehen ab, und meistens führte diese Erkrankung zum Tode.  Heilung gab es nicht.

Diese schwer kranken Menschen hatten bei ihren Gottesdiensten dieses Bild von Jesus am Kreuz vor sich. Die Gestalt des Gekreuzigten glich ihrer eigenen Gestalt. In seinem Leiden konnten sie sich wiederfinden. Jesus Christus – alles Leiden, alle Schuld und alles Elend der Welt hat er auf sich genommen am Kreuz. Das ist unser Trost auch heute. Das ist der Glanz von Weihnachten, den wir mitnehmen in dieses Jahr. Auch in schwierigen Zeiten können wir uns darauf verlassen: Jesus Christus lässt uns nicht allein. Auf seinen Namen sind wir getauft. In seinem Namen feiern wir miteinander das Abendmahl.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer