Predigt zum 13. Sonntag nach Trinitatis, 29. August 2021
1.Mose 4, 3-9: Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?
Liebe Mitchristen!
Haben Sie Geschwister? Ich selber komme aus einer großen Familie. Ich bin mit vier Geschwistern aufgewachsen. Wenn die Familie so groß ist, dann brauchen die Eltern Unterstützung, auch von den älteren Kindern. So war es auch bei uns zuhause. Als ältere Schwester war es immer wieder meine Aufgabe, dass ich meine jüngeren Geschwister hüte – vor allem meine kleine Schwester, die 12 Jahre jünger ist als ich. Vielleicht erinnern sich manche von Ihnen daran, dass das bei Ihnen in der Familie auch so war. Manchmal war das richtig gut für mich. Ich konnte mir Geschichten ausdenken für meine kleine Schwester: Märchen von Zwergen, die bei uns unter dem Dachboden wohnten. Und sie hat mir jedes Wort dieser Geschichten geglaubt. Das hat mir gefallen. Manchmal hat es mir aber auch nicht gefallen, auf sie aufpassen zu müssen. Da hätte ich als Jugendliche nachmittags auch gerne etwas Anderes gemacht, als mit meiner kleinen Schwester am Sandkasten zu sitzen. Und ich habe mich gefragt: Muss immer ich auf sie aufpassen? Kann das nicht mal jemand anderes machen? Und wer kümmert sich eigentlich um mich? Wer fragt danach, was ich brauche?
Jeder, der Geschwister hat, kennt solche Gefühle wahrscheinlich. Das Gefühl, dass es die Schwester oder der Bruder irgendwie besser hat als man selber: Der bekommt immer alles, und wo bleibe ich? Eltern versuchen ja immer, gerecht zu sein und ihre Kinder alle gleich zu behandeln und gleich gern zu haben. Aber dieses Gefühl stellt sich trotzdem oft ein, dass man neidisch ist auf die Geschwister, die es scheinbar irgendwie einfacher haben im Leben – ob zuhause bei den Eltern oder in anderen Lebensbereichen: Dem Bruder, dem fällt alles einfach so in den Schoß. Ich dagegen, ich muss mich richtig anstrengen und lernen, damit ich in der Schule halbwegs gute Noten schreibe. Aber der Bruder macht fast nichts für die Schule, trotzdem ist er ein hervorragender Schüler. Später im Leben ist das dann genauso: Da rackere ich mich ab. Ich gebe mir alle Mühe, damit ich beruflich wenigstens ein bisschen vorankomme. Aber der Bruder, der sahnt beruflich voll ab, und das ohne großen Aufwand.
Geschwistergeschichten –jeder der Geschwister hat, hat hier etwas zu erzählen. Auch die Bibel ist voll von Geschwistergeschichten, von Anfang an. Die erste Geschwistergeschichte ist die Geschichte von Kain und Abel. Eine richtig heftige Geschwistergeschichte, denn am Ende ist der Bruder tot. Dabei hatte alles so gut angefangen. Adam und Eva hatten sich so gefreut, als ihr Sohn Kain geboren wurde. Zum ersten Mal haben die Menschen dieses Wunder erleben dürfen, dass Gott ihnen ein Kind schenkt. Adam und Eva verstehen: Nur mit Gottes Hilfe ist das möglich. Dieses Kind ist ein Geschenk von Gott. Auch über ihren zweiten Sohn Abel freuen sie sich so wie über den ersten. Kain ist jetzt kein Einzelkind mehr. Er hat einen jüngeren Bruder. Zusammen wachsen sie als Geschwister auf. Ob Kain wohl öfters auf seinen kleinen Bruder aufpassen musste? „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ sagt er später. Ich stelle mir vor, Kain hat gedacht: Immer dieser Bruder, immer dieser Abel. Immer wird er bevorzugt, und ich muss ihn auch noch hüten.
Kain fühlt sich benachteiligt. Dabei haben sich seine Eltern so gefreut über seine Geburt. Und als er erwachsen ist, findet er einen Beruf, der zu ihm passt und von dem er leben kann. Kain wird ein Bauer, der die Felder bestellt, und sein Bruder Abel wird ein Hirte, der Schafherden hat. So hat jeder sein Auskommen, und sie könnten eigentlich beide glücklich und zufrieden sein. Dankbar feiern sie Gottesdienst und bringen Gott ein Opfer von dem, was er ihnen geschenkt hat: Kain von den Früchten seiner Felder, Abel von den Tieren seiner Herde. Wenn da nur nicht diese Konkurrenz wäre zwischen Kain und Abel. Sogar, wenn die beiden Brüder miteinander Gottesdienst feiern, steht die Frage im Raum: Wer von uns beiden steht hier besser da? Die Frage: Was gefällt Gott besser – die Früchte von meinem Feld, die ich bringe? Oder die Lämmer von deiner Herde, die du bringst? Kain stellt sich diese Frage. Und die Früchte von seinem Feld, die dort auf dem Opferaltar liegen, die kommen ihm auf einmal klein und mickrig vor im Vergleich zu diesen erstklassigen Lämmern, die sein Bruder von seiner Herde mitgebracht hat. So kommt Kain zu dem Ergebnis: Die Opfergaben, die mein Bruder in den Gottesdienst gebracht hat, gefallen Gott besser als das, was ich mitgebracht habe. Warum Kain zu diesem Ergebnis kommt, erfahren wir nicht. Aber wir erfahren, dass Kain sich auf einmal ganz sicher ist: Von mir und meinem Opfer will Gott nichts wissen. Gott sieht mich nicht einmal. Gott merkt wohl gar nicht, dass ich auch noch da bin und hier Gottesdienst feiere. Das kümmert Gott überhaupt nicht. Gott kümmert sich sowieso nur um meinen Bruder, der hier beim Gottesdienst mal wieder ganz groß rauskommt. So denkt Kain, und sein Blick geht zu Boden.
Aber Gott, von dem es kurz zuvor in der Bibel noch heißt, dass er Kains Opfer nicht ansieht – Gott kümmert sich um Kain. Gott redet mit Kain. Er sagt ihm: Pass auf. Du bist jetzt wütend. Pass auf, dass du nicht etwas tust, was du später bereust. Beherrsche dich. Und schau nicht zu Boden. Schau nach oben. Schau zu mir, zu deinem Gott. Das wird dir helfen. Aber Kain lässt sich nicht helfen. Sein Zorn hat ihn im Griff. Kain geht aufs Feld und tötet seinen Bruder Abel. Gott, der alles weiß und gesehen hat, fragt Kain: „Wo ist dein Bruder Abel?“ „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ antwortet Kain patzig. Die Strafe ist beinahe untragbar: „Verflucht seist du auf der Erde. Unstet und flüchtig sollst du sein.“ Kain bricht zusammen: „Meine Strafe ist zu schwer.“ Und dann: Gottes Barmherzigkeit sogar hier, wo der Brudermord ganz offensichtlich ist: „Wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden.“
„Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ fragt Kain, als es längst schon zu spät ist dafür. Ich denke an meine kleine Schwester, die ich gehütet habe, als ich eine Jugendliche war. Längst ist sie eine erwachsene Frau, die selber mitten im Leben steht. Vielleicht hat es ihr auch ein bisschen ins Leben geholfen, dass ich sie gehütet habe damals. Wir brauchen Menschen, die uns hüten, die in uns ihren Bruder oder ihre Schwester sehen. „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Sollen wir die Hüter der Menschen in Afghanistan sein? Lange waren wir es, ja, vielleicht auch zu lange. Nun ging es zu schnell, dass wir dort nicht mehr Hüter sind – mit schrecklichen Folgen für die Menschen, die in diesem Land leben. Dafür stehen wir in der Verantwortung – für Menschen, die wir im Stich gelassen haben, ob dort in Afghanistan oder in unserem eigenen, persönlichen Umfeld. Hüter sollen wir füreinander sein, und im Anderen den Bruder oder die Schwester erkennen. Wenn wir das schaffen, dann hat Gott unter uns schon sein Haus gebaut.
Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer