Liebe Mitchristen,
Unser Leben hat sich stark verändert in den letzten Wochen und Monaten. Dass wir eingeschränkt sind in dem, wie wir unsere Gottesdienste feiern können, ist dabei womöglich nur eine der kleineren Sorgen, die die Menschen jetzt umtreiben. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Lockdown werden erst nach und nach spürbar. Im Staatshaushalt wird eine immense Schuldenlast aufgehäuft, ein schweres Erbe für unsere Kinder und Enkel. Auch wenn diese Maßnahmen jetzt wichtig und richtig sind – die Frage bleibt: Was für Belastungen kommen da noch auf uns zu? Und wie wird es unser menschliches Zusammenleben auf Dauer prägen, dass wir uns jetzt so lange Zeit nicht in den Arm nehmen können? Dass wir unseren Kindern beibringen, wie wichtig es ist, von unseren Mitmenschen Abstand zu halten statt auf sie zuzugehen? Wir wagen das alles gar nicht zu Ende zu denken. Vielleicht wollen wir auch einfach nicht mehr darüber nachdenken. Wir alle kommen ja irgendwann einmal an den Punkt, wo wir sagen: Es ist genug. Ich will nichts mehr hören von Corona. Ich will einfach nur wieder mein normales Leben zurück – ohne diesen ganzen Wust an Einschränkungen und Regeln, die zu beachten sind. Ohne die Sorgen um die Zukunft und die Gedanken, wo das alles noch hinführen soll.
Ich finde hier die Worte von Dietrich Bonhoeffer sehr tröstlich: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“
Der Apostel Paulus sagt das ganz ähnlich im Predigttext für den heutigen Sonntag. Da geht es um das Böse, dass immer wieder die Oberhand gewinnen will in unserem Leben. Um Aggressionen gegen andere Menschen. Um die Wut, die uns immer wieder packt – ja, gerade auch in dieser Zeit, in der wir uns oft ohnmächtig fühlen. Andere bestimmen über unser Leben, was man darf und was nicht, ob im Gottesdienst gesungen werden darf oder wann und wo man einen Mundschutz tragen muss. Die Wut- und die Rachegefühle sind da. Paulus redet das nicht klein in unserem Predigttext. Er sagt nicht: Unterdrückt diese Gefühle. Paulus weiß offensichtlich, dass das nicht funktioniert. Er weiß, dass diese Gefühle Raum brauchen. Wenn ich sie unterdrücke, dann macht das alles nur noch schlimmer. Dann explodiere ich irgendwann vor Wut. Deswegen sagt Paulus über diese Gefühle: „Gebt Raum.“ Gebt diesen Gefühlen Raum. Aber nicht so, dass sie andere zerstören. Gebt diesen Gefühlen nicht bei euch, in eurem Leben Raum. Gebt ihnen Raum bei Gott. Bei Gott ist Platz für alle diese Gefühle. So verstehe ich das, wenn Paulus in unserem Predigttext sagt: „Gebt Raum dem Zorn Gottes.“ Bei Gott sind auch diese schwierigen Gefühle von mir gut aufgehoben: Die Wut, der Zorn, die Rache. Wenn ich diese schwierigen Gefühle zu Gott bringe, dann kann ich so leben, wie es Paulus in seinem Schlusssatz auf den Punkt bringt: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“
Dieser Satz ist mir vertraut. Er erinnert mich an die Konfirmanden, die ihn gerne als Konfirmationsspruch auswählen. Jedes Jahr gibt es Jugendliche, die finden: Dieser Spruch soll es sein, der mich als Konfirmationsspruch durch mein Leben begleitet. Auch in diesem Jahr ist das so. Auch wenn das Konfirmandenjahr plötzlich ganz anders verlaufen ist als das geplant war. Das Konfirmandenwochenende, das Mitte März hätte stattfinden sollen, mussten wir ganz kurzfristig absagen und die Konfirmationen vom Mai in den Oktober verschieben. Der Konfirmandenunterricht hat seither nur noch per Mail stattgefunden. Erst jetzt geht es wieder, dass wir uns treffen, und ich bin gespannt, wie es ist, die Konfirmanden dann am 22. Juli wiederzusehen. Aber die Konfirmationssprüche haben sie jetzt schon ausgewählt. Sie haben sie mir per Mail geschickt. Und ich hatte die Konfirmanden gebeten, mir noch dazuzuschreiben, warum sie sich gerade für diesen Spruch entschieden haben.
„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Zu diesem Spruch schreibt mir eine unserer Konfirmandinnen: „Diesen Spruch finde ich passend, gerade in dieser Zeit. Durch die häusliche Quarantäne habe ich einen anderen Blick auf die Schule und den Konfirmationsunterricht bekommen. Ein Lächeln, ein kurzer Gruß erlangt nun eine ganz andere Bedeutung.“
Ein Spruch, der passend ist, gerade in unserer Zeit. So sieht es diese Konfirmandin. Sie lässt sich nicht blockieren von all dem Schwierigen, was diese jetzige Zeit mit sich bringt. Sie hat sich die Offenheit für das Gute bewahrt, dort wo es ihr begegnet: In einem Lächeln oder einem kurzen Gruß. Diese kleinen Gesten, die wir uns alle schenken können, die erlebt sie jetzt als eine große Hilfe und Bereicherung. Ich finde das sehr ermutigend. Und ich erlebe es auch immer wieder selber: Menschen, die mir ein solches Lächeln schenken, und auf einmal sieht die Welt viel freundlicher aus. Menschen, die für andere da sind und helfen, wo es nötig ist. Auch mit unserem heutigen Gottesdienstopfer für die Diakonie wollen wir helfen, und mit den Lebensmittelspenden für den Tafelladen, die wir hier in unserer Kirche sammeln. Wir sind nicht ohnmächtig. Wir können etwas tun. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“
Wir können das, weil Jesus Christus uns die Kraft dazu gibt. Er hat das Böse überwunden. Am Kreuz hat er die Last der Welt auf sich genommen. Er lässt uns nicht im Stich, wenn uns die Last zu schwer wird. Er lädt uns alle ein, gerade die Belasteten: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch eure Last abnehmen.“ Er gibt uns die Kraft, die wir für unser Leben brauchen, gerade auch jetzt, in dieser Zeit.
Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer