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Gedanken zum Sonntag

2. Advent

Predigt zum 2. Advent

Liebe Mitchristen!

Die Mauer ist hoch und undurchdringlich. Es geht nicht weiter. Was hinter der Mauer kommt, bleibt verborgen und unerreichbar. Aber dann ist da diese Tür in der Mauer. Die Tür steht offen. Jetzt sehe ich, was hinter der Mauer kommt. Ich schaue in eine weite, offene Landschaft. Mein Blick reicht bis zum Horizont. Es ist nur ein Bild auf dem ich das alles anschaue- die Mauer, die offene Tür und die Landschaft dahinter. Ein Postkartenmotiv ist es. Ich halte die Postkarte in der Hand und schaue. Die Postkarte ist mir zufällig in die Hände gefallen. Zufällig? Gibt es solche Zufälle? Es hat so sein sollen. Für mich ist es ein Wink von oben. Eine Hilfe von Gott in schwerer Zeit. Denn genau dieses Bild brauche ich jetzt. Und erst recht brauche ich den Text, der darunter steht auf dieser Postkarte. Ein Wort aus der Bibel steht da, aus Offenbarung 3,8: „Jesus Christus spricht: Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, die niemand zuschließen kann.“ Ich lese dieses Bibelwort immer wieder, und es fällt direkt in mein Herz.

Ich sitze in meinem Arbeitszimmer in meiner früheren Kirchengemeinde. Ein Der Raum ist zwar groß, aber dunkel. Es ist eine Einliegerwohnung im Keller, mit nur wenig Tageslicht. Nur ein kleines Stück Himmel sieht man aus dem Fenster. Es ist nicht gemütlich hier. Es ist schon Abend. Eigentlich habe ich Feierabend. Die Wohnung oben ist schön und hell. Trotzdem bleibe ich lieber hier unten in meinem Keller- Arbeitszimmer. Oben in der Wohnung ist es nicht gut für mich. Meine Ehe ist kaputt. Ich weiß nicht mehr weiter. Ich bin im Keller meines Lebens angekommen. Aber wie ein Sonnenstrahl, der durch das schmale Kellerfenster hindurchdringt, so bringt diese Postkarte ein kleines bisschen Licht und Wärme in mein Leben. Einen Hoffnungsschimmer: Könnte es denn wahr sein, was Jesus Christus in diesem Bibelwort verspricht: „Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, die niemand zuschließen kann?“ Könnte das wirklich auch für mich gelten- auch jetzt, in dieser verfahrenen Situation, wo ich keinen Ausweg weiß? Ja, es könnte. Ja, es kann. Jesus Christus meint mich. Und er meint es ernst, wenn er sagt: „Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, die niemand zuschließen kann.“ Über zehn Jahre ist diese Begebenheit jetzt her. Und doch ist sie mir sofort wieder eingefallen, als ich den Predigttext für den heutigen Sonntag gelesen habe aus Offenbarung 3,7-11:

„Und dem Engel der Gemeinde in Philadelphia schreibe: Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, der auftut, und niemand schließt zu, und der zuschließt, und niemand tut auf: Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, die niemand zuschließen kann; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet. Siehe, ich werde einige schicken aus der Versammlung des Satans, die sagen, sie seien Juden, und sind’s nicht, sondern lügen. Siehe, ich will sie dazu bringen, dass sie kommen sollen und zu deinen Füßen niederfallen und erkennen, dass ich dich geliebt habe. Weil du mein Wort von der Geduld bewahrt hast, will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen, die auf Erden wohnen. Ich komme bald; halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme!“

Die Offenbarung- das ist für uns heute oft ein Buch mit sieben Siegeln. Ich denke, wir tun diesem biblischen Buch damit Unrecht. Die Offenbarung ist vor allem ein Buch des Trostes für Menschen in Bedrängnis. Menschen, die nicht wissen, wie es weitergehen soll. So wie ich damals, als ich ganz unten im Keller meines Lebens angekommen war. Damals, als die Offenbarung aufgeschrieben wurde, da waren die Menschen auch ganz unten und wussten nicht, wie es weitergehen soll. Die junge christliche Gemeinde war noch ein kleines, schwaches Pflänzchen und musste um ihren Weiterbestand fürchten. Christsein war lebensgefährlich damals. Das Christentum wurde von den römischen Herrschern verfolgt- anders als die jüdische Gemeinde, die von den Herrschern akzeptiert wurde und den Kaiser nicht als Gott anbeten musste. So gab es Konflikte zwischen den Christen und denen, die sich zur jüdischen Schwestergemeinde hielten. Die Stadt Philadelphia war nur eine kleine Stadt mit geringer Wirtschaftskraft. Eine Stadt in einer Krisenregion. Immer wieder wurde Philadelphia von Erdbeben heimgesucht. Was man sich dort aufbaute, konnte von einem Tag auf den anderen in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus. „Ich komme bald,“ sagt Jesus dieser kleinen Gemeinde in diesem schwierigen Umfeld. Nicht als Drohung, sondern als Trost sagt er es. So wie eine Mutter, die ihr Kind kurz allein lassen muss und ihm sagt: „Ich komme bald wieder.“ Du musst nicht mehr aushalten, als was deine kleine Kraft ermöglicht. „Ich komme bald,“ sagt Jesus. Er sagt es zu Menschen, denen die Probleme zu groß erscheinen. Auch in unserer Zeit voller Krisen und Kriege. Überall da, wo Menschen sich Sorgen machen und nicht mehr weiterwissen. Bald? Was heißt hier bald? Das römische Reich, in dem die Christen um ihr Leben fürchten mussten, ist lange her. Aber „bald“ ist hier mehr als eine Zeitangabe. „Bald“, das bedeutet, dass Jesus ganz nahe ist, dass er für uns da ist. „Bald“- das bemisst sich nach Gottes Uhr, nicht nach der Uhr der Menschen.

„Halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme!“ spricht Jesus Christus weiter. Auch das ist ein Wort gegen die Resignation. Ein Wort, das an die gerichtet ist, die nur eine kleine Kraft haben. So wie die christliche Gemeinde in Philadelphia damals klein und unbedeutend war, so gilt dieses Wort auch heute für uns, die wir schmerzlich wahrnehmen müssen, wie unsere Gemeinde kleiner werden: „Halte, was du hast.“ Denn was du hast, ist viel und ist wertvoll, auch wenn es nur eine kleine Kraft ist. Was du hast, ist die Krone: Wir alle sind Söhne und Töchter Gottes. Wir alle sind Gotteskinder. Das ist die Krone die wir haben, ein kostbarer Schatz. Halte ihn fest, auch wenn das Leben unter die Räder gekommen ist. Ein weiteres Postkartenmotiv fällt mir dazu ein. Es ist nicht aus der Bibel, und doch gibt es vielen Menschen Trost und Hoffnung: Hinfallen. Aufstehen. Krone richten. Vielleicht haben Sie so eine Postkarte schon einmal in den Händen gehalten, und sie hat ihnen weitergeholfen? Vielleicht haben Sie sie schon einmal verschenkt an jemanden, der sie nötig hatte?

Meine Postkarte mit der offenen Tür in der Mauer und dem Bibelwort von Jesus Christus habe ich wohl auch weiterverschenkt an jemanden, der sie nötiger hatte als ich. Genau weiß ich es nicht mehr. Vielleicht ist sie auch einfach wieder irgendwo zwischen den anderen Unterlagen verschwunden, als sie nicht mehr wichtig war für mich. Damals vor über 10 Jahren jedenfalls, als sie mir in die Hände gefallen ist, da hat sie einen Ehrenplatz bekommen in meinem Arbeitszimmer im Keller. Jeden Tag ist mein Blick auf diese Postkarte gefallen: Auf die offene Tür in der Mauer, auf die weite Landschaft dahinter, auf das Bibelwort von Jesus Christus: „Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan, die niemand zuschließen kann.“

Es hat noch lange Zeit gedauert, bis ich für mich eine Tür in der Mauer gefunden habe, oder zumindest einen winzigen Türspalt. Und als ich durch diese Tür gegangen war, war die Landschaft dahinter auch nicht immer hell und weit bis zum Horizont. Da gab es auch wieder neue Mauern, die sich mir in den Weg stellten, und ungeahnte Abgründe taten sich auf, die überwunden werden mussten. Aber eines habe ich gelernt damals, als ich diese Postkarte in meinem Keller- Arbeitszimmer stehen hatte. Ich habe gelernt, zu vertrauen gegen allen Augenschein. Mich fallen zu lassen in Jesu Arme- ohne zu wissen, ob da wirklich ein gangbarer Weg sein wird für mich, und wann. Ich habe es nicht wissen können. Ich habe einfach daran geglaubt. Und das hat mir Hoffnung gegeben. Ja, keiner wird die Tür verschließen können, die Jesus Christus für uns offenhält.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer