- 1. Sonntag nach Epiphanias
Predigt zum Gottesdienst am 1. Sonntag nach Epiphanias, 12. Januar 2025
Liebe Mitchristen!
Nach langer und entbehrungsreicher Wüstenwanderung stand das Volk Israel am Jordan. Auf der einen Seite des Flusses lag die Wüste, die an die vergangenen 40 Jahr erinnerte- an Hunger, Durst, Erschöpfung und Entbehrung. Kaum einer von ihnen wusste noch, wie es damals in Ägypten war, als sie als Sklaven schuften mussten.
Mose war ihr Anführer gewesen, diese ganzen 40 Jahre lang. Aber jetzt war Mose gestorben. Ausgerechnet jetzt, wo sie ihn so dringend gebraucht hätten, hier am Jordan. Denn auf der anderen Seite des Jordans lag fruchtbares Land- das Land, von dem sie immer geträumt hatten: Milch und Honig im Überfluss würde es dort geben. Eines Tages würden sie ein gutes Leben haben- ohne Hunger und Durst, ohne Erschöpfung und Entbehrung. Hier am Jordan waren sie am Ziel. Würden sich ihre Hoffnungen erfüllen- oder doch enttäuscht werden?
Die Bibel erzählt, wie es ist, wenn man das Gewohnte verlässt und sich einen Neuanfang wagt- einen Aufbruch in eine neue, ungewisse Zukunft. Denn auch wenn das Leben in der Wüste hart und entbehrungsreich war: Nach 40 Jahren Wüstenwanderung kannten sich die Israeliten dort aus. Sie wussten, wie man in der Wüste überlebt. Im Kulturland war das anders. Dort waren andere Fertigkeiten und Fähigkeiten gefragt. Würden sie damit zurechtkommen, noch dazu ohne Mose, ihren Anführer?
In Zeiten des Umbruchs wünscht man sich eine starke Führungspersönlichkeit, damals wie heute. Auch unsere Zeit erleben wir oft als eine Zeit des Umbruchs, als eine Zeit mit großen Herausforderungen. In wenigen Wochen ist Bundestagswahl. Viele wünschen sich da eine starke Führungspersönlichkeit für unser Land. Aber ist dies überhaupt der richtige Wunsch- sollten wir nicht vielmehr darauf hinarbeiten, dass wir unsere Demokratie stärken und selber Verantwortung übernehmen, anstatt auf „die da oben“ zu schimpfen? Führungspersönlichkeit ist sicherlich nicht derjenige, der am lautesten und polemischten ist. Christian Lindner wurde bei einer Wahlkampf- Veranstaltung mit einer Torte beworfen. Was er daraufhin gesagt hat, finde ich nachdenkenswert: „Dass wir in einem Bundestagswahlkampf als Demokratinnen und Demokraten zusammenkommen können und wir hören die Argumente der anderen, auch wenn wir sie nicht teilen, das ist ein Zeichen unserer politischen Kultur.“
Ja, ich denke: Die Argumente der anderen hören, auch wenn wir sie nicht teilen- das ist etwas, was wir zu wenig tun. Es ist wichtig, dass wir wieder lernen, einander zuzuhören, gerade auch in unserer Zeit, die wir als eine Zeit der Umbrüche und Veränderungen erleben. In mancherlei Hinsicht geht es uns da wie den Israeliten damals am Jordan. Wir brechen auf in eine neue Zukunft, die wir nicht kennen. Wenn wir an die Zukunft unseres Landes denken, ist das so.
Und auch, wenn wir an die Zukunft unserer Kirche denken. Auch da kann man den Eindruck bekommen: Nichts bleibt, wie es war. Unser Gosheimer Johannes-Gemeindehaus haben wir zur Kindergartengruppe umfunktioniert. Und damit wir wieder mehr Platz für Gemeindeveranstaltungen haben, werden wir in unsere Wehinger Christuskirche einen Gemeinderaum einbauen. Ja, nicht einmal das Kirchengebäude bleibt, wie es ist. Auch der Kirchenbezirk bleibt nicht, wie er ist. Nicht mehr in Tuttlingen wird der Sitz des neuen Dekans sein, sondern in Rottweil- und die Gemeinden des bisherigen Kirchenbezirks Sulz gehören jetzt auch dazu.
Als wir in Gosheim die neue Kindergartengruppe eingeweiht haben in den ehemaligen Gemeindehaus- Räumen im September letzten Jahres, da haben wir einen Festgottesdienst gefeiert. Und als die Kirchenbezirke Tuttlingen und Sulz sich zum neuen Kirchenbezirk Rottweil zusammengeschlossen haben, haben wir es auch so gemacht, am 6. Januar in Rottweil. Viele Menschen aus den Gemeinden des neuen Kirchenbezirks sind in der Rottweiler Predigerkirche zusammengekommen. Wir haben miteinander gesungen, gebetet, und der Prälat hat gepredigt. Anschließend haben wir miteinander auf den neuen Kirchenbezirk angestoßen und Kaffee getrunken. Und das, obwohl klar war, dass dieser Zusammenschluss aus der Not geboren ist, dass unsere Gemeinden kleiner werden.
Warum feiern wir das Neue- selbst dann, wenn es uns eher Angst und Sorge macht als Freude? Ich denke, wir tun es gerade deshalb. Wir tun es, um zu zeigen: Wir haben Grund zum Vertrauen in die Zukunft. Denn wir gehen den Weg ins Ungewisse mit dem lebendigen Gott an unserer Seite. Und auch, wenn Manches wegbricht, auf das wir uns bisher immer verlassen konnten: Gott verlässt uns nicht. Auf ihn sollen wir vertrauen, nicht auf Menschen. Starke Führungspersönlichkeiten wie damals Mose es war, sind wichtig. Aber sie sind eben auch verführerisch. Denn wir sollen uns nicht an Menschen klammern, die uns sagen, wo es lang geht. Auf Gott sollen wir vertrauen, und dem Neuen eine Chance geben: „Wie ich mit Mose gewesen bin, so werde ich auch mit dir sein,“ sagt Gott zu Josua in Josua 3, 7. Und Josua sagt zum Volk: „Heiligt euch!“ (Josua 3, 5) Damit meint Josua: Wir wollen das Neue bewusst angehen, nicht mit blindem Aktionismus. Wir wollen den Übergang über den Jordan, hinüber in das Gelobte Land, feiern wie einen Festgottesdienst. Die Priester sollen vorausgehen mit der Bundeslade, in der die 10 Gebote aufbewahrt werden. Und wir wollen warten, bis es Zeit ist. Wir gehen erst morgen früh los. Bis dahin bereitet euch vor.
Ich stelle mir vor, wie das am nächsten Morgen war für die Priester, die mit der Bundeslade loszogen, hinein in den Jordan- diesen großen und beeindruckenden Fluss, der an die 65 Meter breit sein kann: Ohne Angst losgehen in die reißenden Fluten, und mittendrin stehen bleiben. Mitten in der Gefahr innehalten. Tief Luft holen, wenn es mir die Kehle zuschnürt- vor Angst, vor Wut, vor Ärger, dass das Alte nicht einfach so bleiben kann wie es immer war. Mitten im Fluss des Lebens stehen bleiben und die Worte der Bibel hören: „Lass es jetzt zu!“ (Matthäus 3, 15) Das sind Worte der Bibel, die ebenfalls am Jordan gesprochen wurden, 1200 Jahre später. Johannes der Täufer steht da am Jordan, und Jesus kommt zu ihm, um sich taufen zu lassen. Für Johannes ist das unvorstellbar, dass er Jesus taufen soll, der doch der Größere von ihnen beiden ist.
„Lass es zu,“ sagt Jesus. Lass dich ein auf das Neue, bisher Unvorstellbare. Verabschiede dich von Deinen alten Vorstellungen. Lass es zu, und warte mit offenen Händen auf Gottes Wunder. „Nicht müde werden, sondern dem Wunder wie einem Vogel die Hand hinhalten.“ So sagt es Hilde Domin in einem Gedicht.
Mit offenen Händen auf Gottes Wunder warten. Eine Antenne dafür haben. Auch wenn kein Mose mehr da ist. Auch wenn in unserem Land die starken Führer fehlen mögen. Die starken Führer verschwinden, aber Gott ist in den Schwachen mächtig: Josua- Joshua- Jeshua- Jesus. Es ist alles derselbe Name. Jesus- der Himmel öffnet sich bei seiner Taufe. Eine neue und unbekannte Zukunft beginnt. Und ich darf sie feiern: Voller Hoffnung mache ich mich auf den Weg ins Unbekannte. Meine Fußsohlen suchen Halt auf glitschigem Grund. Manchmal steht mir das Wasser bis zum Hals. Aber was mir heilig ist, habe ich dabei: Mein Gottvertrauen. Den Glauben, dass am Ende alles gut werden wird. Mitten im Fluss ist das Wasser am tiefsten. Dort, wo die Angst mir die Kehle zuschnürt, gehe ich hin. Ich laufe nicht weg von diesem Ort. Nein, gerade hier bleibe ich stehen und erlebe: Es bleibt nicht dabei, dass mir das Wasser bis zum Hals steht. Die Fluten verlaufen sich. Ein Weg wird erkennbar- nicht nur für mich, auf für all die anderen. Auch sie können jetzt ihre Angst loslassen und sich auf das Neue einlassen. So war es damals am Jordan bei Josua. So ist es auch heute.
„Lass es zu,“ sagt Jesus am Jordan zu Johannes dem Täufer. Manchmal braucht es neue, ungewohnte Wege. Manchmal müssen wir über unseren Schatten springen und uns auf das einlassen, was für uns bisher unvorstellbar war. Dann wird Gutes daraus entstehen. Dann steht uns der Himmel offen, und Gottes Geist umweht uns. Dann hören wir Gottes Stimme: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“
Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer