Predigt zum 21. Sonntag nach Trinitatis, 20. Oktober 2024
Liebe Mitchristen!
„Wehrt euch nicht gegen Menschen, die euch etwas Böses antun.“ So sagt es Jesus in der Bergpredigt (Matthäus 5, 39). Würden Sie diesen Ratschlag Ihrem Kind mit auf den Lebensweg geben? Als Kind bin ich mal auf dem Schulweg verhauen worden. Ich war in der ersten Klasse. Wir wohnten gleich gegenüber von der Schule. Meine Mutter hat es aus dem Fenster gesehen. Sie hat gesehen, dass ich mich nicht gewehrt habe. Ich war ein braves Kind. Hauen, das machen doch nur die Bösen. Ich habe mich gewundert, dass meine Mutter, die sonst immer wollte, dass ich brav bin, nach diesem Vorfall zu mir gesagt hat: „Du musst dich wehren!“
„Wehrt euch nicht gegen Menschen, die euch etwas Böses antun.“ Jesus hat das konsequent gelebt. Er hat nicht nur Schläge eingesteckt, so wie ich damals auf dem Schulweg. Er ist verhaftet und verurteilt worden. Verspottet und verhöhnt, gefoltert und gekreuzigt ist er worden. „Wehrt euch nicht gegen Menschen, die euch etwas Böses antun.“ Kann ich, darf ich das als Ratschlag weitergeben an Menschen, denen Böses angetan wird? Wehrt euch nicht? Soll ich das wirklich sagen zu denen, die heute gemobbt und geschlagen werden, die sexuell missbraucht werden? Wehrt euch nicht? Soll das mein Ratschlag sein für die Menschen in der Ukraine, die sich gegen den russischen Angriffskrieg in ihrem Land wehren? Für die Menschen in Israel und im Gazastreifen? Wehrt euch nicht?
Eigentlich wäre ich schon froh, wenn dort wenigstens die alte Regel gelten würde, die die Bibel überliefert, und die Jesus auch zitiert: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ (Matthäus 5, 38). Eigentlich wäre ich schon froh, wenn gelten würde: Jetzt, wo der Anführer der Hamas tot ist, jetzt lasst es gut sein und verhandelt miteinander. Das ist es ja, was Auge um Auge, Zahn um Zahn bedeutet: Jede Seite hat schwere Verluste erlitten. Jetzt lasst es gut sein. Zieht einen Schlussstrich. Macht nicht mehr weiter mit eurem destruktiven Verhalten. Gebt dem Frieden eine Chance. Ich wünsche mir, ja ich bete darum, dass wir in den Kriegsgebieten dieser Welt wenigstens an diesen Punkt kommen: Auge um Auge, Zahn um Zahn, und dann Schluss. Damit auch wir in unserem Land weiterhin in Frieden leben können.
Aber Jesus will mehr. Jesus reicht das nicht: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Gar nicht wehren soll man sich, sagt Jesus: Wehrt euch nicht! Ich würde es heute nicht mehr so machen wie damals als Erstklässlerin, als ich mich auf dem Schulweg verhauen lassen habe ohne mich zu wehren. Ich würde mich wehren. Denn auch ich bin ein Geschöpf Gottes. Gott hat mich gewollt- als aufrechten Menschen. Nicht als einen, der unterdrückt, geschlagen, gemobbt und missbraucht wird. Gott hat mir das Leben geschenkt, und ich will meinen Beitrag dazu leisten, es zu erhalten. Wenn jemand mich angreift oder verletzt, dann will ich, dass der das merkt, das ich verletzt bin. Und nicht, dass der denkt: Das macht der ja gar nichts aus. Da kann ich ja gerade so weitermachen! Deswegen würde ich mich wehren.
Aber es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich zu wehren. Sich wehren, das muss nicht mit Gewalt sein. Gewalt führt zu Gegengewalt, das wissen wir. Und so schraubt sich die Spirale der Gewalt dann immer höher. Sich wehren, das kann auch gewaltloser Widerstand sein. Und eigentlich ist es genau das, was Jesus empfiehlt, wenn er sagt: „Wehrt euch nicht gegen Menschen, die euch etwas Böses antun.“ Es ist eine Art paradoxer Intervention- der Überraschungseffekt, der das Potenzial hat, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen. Jesus nennt dafür verschiedene Beispiele. Eines davon leuchtet mir besonders ein: „Wenn dich jemand dazu zwingt, seine Sachen eine Meile zu tragen, dann geh zwei Meilen mit ihm.“ (Matthäus 5, 41).
Israel war zur Zeit Jesu unter römischer Besatzung. Die römischen Besatzer hatten die Macht. Und so hatte jeder Römer das Recht, einen beliebigen Menschen in Israel auf der Straße anzusprechen und von ihm zu verlangen, dass er seine Sachen trägt. Bei einem Soldaten mit Rüstung und Waffen konnte richtig schwer zu tragen sein. Aber weil die Römer ja ein gutes Rechtssystem hatten, war auch hier eine Grenze festgelegt: Eine Meile weit durfte man jemanden zum Tragen verpflichten, nicht weiter. Jesus schlägt nun vor: Tragt die Sachen von dem Römer doch noch eine zweite Meile! Und ich bin sicher: Wenn jemand diesen Ratschlag damals beherzigt hat, dann ist er bestimmt von dem Römer gefragt worden: „Warum machst du das?“ Und es hat sich ein Gespräch auf Augenhöhe entwickelt.
Sicherlich hat das nichts daran geändert, dass die Römer damals die Besatzungsmacht im Land waren. Und doch: Nur im Kleinen können wir anfangen, der Kultur des Hasses und der Aggression eine andere Kultur entgegenzusetzen. Das galt nicht nur damals in Israel. Das gilt auch für uns heute. So wie es in unserem Wochenspruch heißt: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ (Römer 12, 21)
Dazu gehört für mich: Sich in die Perspektive des Anderen hineinzuversetzen. Den Feind nicht nur als Feind, sondern als Mitmensch zu sehen. Und trotzdem nicht den Zuckerguss der Liebe und des Verzeihens über alles ziehen, sondern dem Bösen wirklich wehren: Menschen helfen, die von anderen gepiesackt werden. Die Kraft dazu gibt uns Jesus Christus, der für uns gestorben und auferstanden ist. Er ist unser Vorbild. Und doch verlangt er keinen Perfektionismus von uns. Er hat unsere Sünden am Kreuz auf sich genommen. Er ist unsere Zuflucht, Hilfe und Kraft auch in schweren Zeiten, wenn andere uns Böses wollen. Sein Heiliger Geist schenke uns die Phantasie, das Böse zu überwinden.
Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer