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Gedanken zum Sonntag

19. Sonntag nach Trinitatis

Predigt zum 19. Sonntag nach Trinitatis, 10. Oktober 2021

 

Jesaja 38, 9-20: Dies ist das Lied Hiskias, des Königs von Juda, als er krank gewesen und von seiner Krankheit gesund geworden war: Ich sprach: In der Mitte meines Lebens muss ich dahinfahren,

zu des Totenreichs Pforten bin ich befohlen für den Rest meiner Jahre. Ich sprach: Nun werde ich nicht mehr sehen den Herrn, ja, den Herrn im Lande der Lebendigen, nicht mehr schauen die Menschen, mit denen, die auf der Welt sind. Meine Hütte ist abgebrochen

und über mir weggenommen wie eines Hirten Zelt. Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber; er schneidet mich ab vom Faden. Tag und Nacht gibst du mich preis; bis zum Morgen schreie ich um Hilfe; aber er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe; Tag und Nacht gibst du mich preis. Ich zwitschere wie eine Schwalbe und gurre wie eine Taube. Meine Augen sehen verlangend nach oben: Herr, ich leide Not, tritt für mich ein! Was soll ich reden und was ihm sagen? Er hat’s getan! Entflohen ist all mein Schlaf bei solcher Betrübnis meiner Seele. Herr, davon lebt man, und allein darin liegt meines Lebens Kraft: Du lässt mich genesen und am Leben bleiben. Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe; denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück. Denn die Toten loben dich nicht, und der Tod rühmt dich nicht, und die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Treue; sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute. Der Vater macht den Kindern deine Treue kund. Der Herr hat mir geholfen, darum wollen wir singen und spielen, solange wir leben, im Hause des Herrn!

 

Liebe Mitchristen !

 

Manchmal werden wir mitten aus dem Leben herausgerissen und stehen auf einmal vor dem Nichts. Alle unsere Pläne sind auf einen Schlag über den Haufen geworfen. Und da wo gestern noch der Weg in die Zukunft vor uns lag, da tut sich plötzlich ein Abgrund auf. Was hat uns so herausgerissen und entwurzelt? Was hat uns den Boden unter den Füßen weggezogen? Der Verlust des Arbeitsplatzes kann das sein. Oder das Ende einer Beziehung. Der Abschied von einem geliebten Menschen. Eine schwere Krankheit. Wir stehen mitten im Leben, und dann kommt eine Krise und wirft uns aus der Bahn. Manchmal gibt es nicht einmal einen ersichtlichen Grund dafür. Midlife-Crisis nennen das die Psychologen dann. Der König Hiskia, von dem unser Predigttext erzählt, der stand auch mitten im Leben. Er hat es auf der Karriereleiter ganz nach oben geschafft. Er hat alles erreicht, was man sich nur wünschen kann.

 

Unter den Politikern seiner Zeit war Hiskia ein Star. Umfragen gab es damals natürlich noch nicht, im 8. Jahrhundert vor Christus. Aber wenn es sie gegeben hätte, dann wäre Hiskia mit Sicherheit ziemlich weit oben gelandet. Da gab es zwar noch die beiden Herrscher der Supermächte seiner Zeit: Assyrien im Norden und Ägypten im Südwesten von Israel. Die hatten schon wegen ihrer militärischen Macht immer die Aufmerksamkeit auf ihrer Seite. Aber für den Herrscher eines Kleinstaates zwischen den großen politischen Blöcken hatte Hiskia es geschafft. Das sahen nicht nur seine Zeitgenossen so. So sahen es auch die biblischen Schriften, die im zeitlichen Abstand auf die Könige von Juda und Israel zurückschauten. Die gehen mit fast allen Königen scharf ins Gericht. Hiskia gehört da zu den ganz wenigen, die ausdrücklich gelobt werden. Und seine politischen Leistungen waren dabei gar nicht das Entscheidende. Die Bibel hat hier andere Maßstäbe an einen guten Herrscher – ob ein König aus dem Glauben an den einen Gott lebt, ob er die Verehrung dieses einen Gottes in seinem Land unterstützt und fördert. Hiskia hat das gemacht. Er hatte sogar einen Propheten als Ratgeber – den Prophet Jesaja. Religion ist für Hiskia nicht nur Mittel zum Zweck, damit er als Herrscher gut dasteht. Hiskia meint es ernst mit dem Glauben, Hiskia erfährt Gottes Segen.

 

Aber dann kommt dieser Schlag ins Genick. Mitten im Leben trifft es Hiskia. Und es trifft ihn richtig hart. Es liegt glasklar vor Augen: Das hier ist mehr als eine Midlife-Crisis. Hier geht es nicht um ein paar dunkle und orientierungslose Jahre, die vorübergehen werden, und dann geht das Leben weiter. Bei Hiskia ist es anders: „Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht am Leben bleiben,“ sagt ihm der Prophet Jesaja. Eine persönliche Katastrophe, die Hiskia aus der Bahn wirft. Hiskia ist todkrank. Wahrscheinlich muss man nicht einmal ein Prophet sein, um das zu sehen. Aber Jesaja, der Prophet und Ratgeber Hiskias, der spricht es aus. „Sie haben nur noch ein paar Monate,“ sagt der Arzt. „Wir können leider nichts mehr für Sie tun.“ Jeden Tag passiert das, in den Krankenhäusern und Arztpraxen. Jeden Tag müssen Ärzte diese Worte aussprechen. Jeden Tag hören Menschen diese Schreckensnachricht, werden sprachlos und stumm oder bäumen sich dagegen auf und schreien. „Ich zwitschere wie eine Schwalbe und gurre wie eine Taube“, so beschreibt Hiskia das – diese Sprachlosigkeit, in der keine Worte mehr da sind, nur noch unartikulierte Laute wie von Tieren. Die unerträglichen Schmerzen beschreibt er – sie sind wie ein Löwe, der ihm alle Knochen zerbricht. Sein Leben wird zerfressen von dieser Krankheit, aufgefressen wie von einem reißenden Raubtier. So erlebt es Hiskia. Ich stehe am Tor zur Totenwelt, so ruft er. Die Menschen, die ich liebe, werde ich nicht mehr sehen. Und auch Gott nicht mehr loben können.

 

Ausgerechnet Hiskia trifft es. Dabei hat er doch so viel erreicht. Dabei hat er doch noch Pläne für die Zukunft. Aber das alles zählt jetzt nicht mehr. Warum gerade ich? Das fragt sich Hiskia. Es gibt keine Erklärung dafür. Das Warum einer Krankheit lässt sich nicht erklären. Ganz sicher jedenfalls geht es nicht um eine Strafe, auch nicht um eine Prüfung. Krankheit und Leid sind keine Gottesstrafe und kein Frömmigkeitstest. Hiskia trifft es halt.

 

Wie nimmt Hiskia diese Nachricht auf? Die Bibel erzählt: Er verdeckt sein Gesicht. Er sucht Schutz, indem er sich zur Wand dreht. Schmerz ist eine ganz persönliche Angelegenheit. Niemand soll Hiskia jetzt sehen. Er braucht Zeit – Zeit für sich und seine Verzweiflung. Und dann bricht es aus Hiskia heraus, in seinem Gebet zu Gott: Warum Gott? Was ist der Sinn? Hiskia verliert nicht seinen Glauben an Gott. Er sagt nicht: Wenn mir so etwas passiert, dann kann es Gott nicht geben. Hiskia bleibt dran am Glauben. Er ringt mit Gott. Und er fleht Gott an: Erinnere dich doch, Gott. Denke doch an deine Güte. An meine Versuche, dir zu dienen und die Gaben zu nutzen, die du mir gegeben hast. Gott, ich leide Not! Hilf mir! Doch dann verlassen Hiskia die Worte, und der Schmerz bricht sich Bahn. Hiskia weint bitterlich.

 

So schildert die Bibel Hiskia in seinem Schmerz und seiner Verzweiflung. Und erzählt dann weiter, wie Hiskia plötzlich Gnade erfährt, ganz unverdient. 15 Jahre werden ihm noch geschenkt. So sagt es ihm der Prophet Jesaja. Warum bekommt Hiskia noch 15 Jahre geschenkt? Auch dafür gibt es keine Erklärung. Ja, Hiskia hat mutig gebetet. Er hat bitter geweint. Er hat ganz auf Gott vertraut, dankbar für alles Gute, was er in seinem Leben bisher erfahren durfte. Aber wir alle wissen: Nicht jedes Leid wird dadurch gewendet. Nicht jede Krankheit wird dadurch geheilt. Oft behalten die Ärzte eben doch Recht mit ihrer schlimmen Nachricht, und das Leben ist bald zu Ende gelebt. „Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber; er schneidet mich ab vom Faden,“ sagt Hiskia dazu in seinem Lied. Unser Leben als Webstück – das ist ein Bild, das nicht nur schmerzlich, sondern auch tröstlich ist. Denn wenn der Faden reißt, dann bleibt das, was gewebt ist an diesem Leben. Es bleibt ein Kunstwerk, dieses Leben – wertvoll und aus Gottes Hand. Mit allem, was dazugehört: Den schönen und sauber gewebten Stücken genauso wie mit den eher unordentlichen, den Löchern und Brüchen im Leben. Und wer von uns kann beurteilen, wann dieses Kunstwerk unseres Lebens vollendet ist? Es bleibt geborgen in Gottes Hand – egal. wie groß und umfangreich es gewebt worden ist. Das Leben bleibt ein Geschenk von Gott: Kostbar, unverfügbar und begrenzt. So wie es in Psalm 90, 12 heißt: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Jeder Tag unseres Lebens ist geschenkte Zeit von Gott – jeder neue Morgen, an dem wir die Vorhänge aufziehen und die Sonne sehen.

 

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer (nach Gedanken von Christian Nottmeier)