Predigt zum Sonntag Kantate, 2. Mai 2021
Lukas 19, 37-40: Und als Jesus schon nahe am Abhang des Ölbergs war, fing die ganze Menge der Jünger an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, und sprachen: Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe! Und einige von den Pharisäern in der Menge sprachen zu ihm: Meister, weise doch deine Jünger zurecht! Er antwortete und sprach: Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.
Liebe Mitchristen!
„Habe ich denn so Unrecht getan damit, dass ich ihm als Pfarrer die Wahrheit gesagt habe? Warum haben seine Mitprediger es nicht getan? Ich habe ihnen lange zugesehen, ob sie es tun wollten. Dann hätte ich, eine arme Frau, gerne geschwiegen und andere reden lassen. Aber wie der Herr Jesus sagte: ‚Wenn diese schweigen, müssen die Steine reden.‘ Und ich bin doch mehr als ein Stein.“ Diese Worte stammen von Katharina Zell. Katharina Zell war die Witwe des ersten evangelischen Pfarrers in Straßburg. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich für die Ausbreitung des Evangeliums in ihrer Stadt eingesetzt. Die Armen, die Kranken und die aus Glaubensgründen Verfolgten hatte sie versorgt. Sie alle hatten bei ihr Trost und praktische Hilfe erfahren. Dabei war Katharina Zell in ihrer Nächstenliebe weiter gegangen als die meisten anderen Menschen in ihrer Zeit. Sie hatte sie sich auch um diejenigen gekümmert, die die Kindertaufe ablehnten und deswegen um ihr Leben fürchten mussten. Katharina Zell hatte das getan, obwohl sie die Glaubensüberzeugung dieser Täufer nicht geteilt hat. Für viele von Katharina Zells Zeitgenossen war das absolut unerträglich. Solchen Leuten wie den Täufern sollte man auf keinen Fall irgendetwas Gutes tun, da hatten diese Menschen eine ganz klare Meinung.
Einer von ihnen war der neue Straßburger Pfarrer. Von der Kanzel herunter hatte er Katharina Zell in seiner Predigt abgekanzelt. Er hatte ihr den Glauben abgesprochen und behauptet, dass sie mit dem Teufel unter einer Decke steckt. Das war gefährlich für Katharina Zell, lebensgefährlich. Die Zeit der Hexenverbrennungen war noch lange nicht vorbei, damals in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Aber Katharina Zell hat sich nicht weggeduckt und versteckt. Sie hat sich nicht ins Private zurückgezogen, wie man es von einer Frau damals erwartet hätte. Sie hat ihre Stimme erhoben und ist laut geworden: „Wie der Herr Jesus sagte: ‚Wenn diese schweigen, müssen die Steine reden.‘ Und ich bin doch mehr als ein Stein.“
Nicht schweigen, sich nicht wegducken. Laut die Stimme erheben. Die Wahrheit über Gottes Liebe lässt sich nicht zum Schweigen bringen. So war es auch damals, als Jesus auf dem Esel in Jerusalem eingeritten ist, und seine Anhänger ihre Kleider vor ihm auf der Straße ausgebreitet haben. Laut haben die Jünger es da herausposaunt: Jesus Christus, unser Erlöser! Er ist der Messias, der von Gott versprochene Retter! Mit ihm hat Gott sein Versprechen erfüllt: „Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!“ Den obersten Religionswächtern damals in Jerusalem, den Pharisäern, denen war dieses Lied absolut unerträglich. „Meister, weise doch deine Jünger zurecht!“ sagen sie zu Jesus. Bring sie zum Schweigen.
Aber das Lied, das die Jünger da auf den Lippen haben, lässt sich nicht zum Schweigen bringen, nicht von dem Pfarrer in Straßburg und nicht von den Pharisäern in Jerusalem. Selbst dann nicht, wenn die Menschen verstummen, die dieses Lied gesungen haben. Dann klingt das Lied weiter, im Gesang der Vögel und im Duft der Blumen. Jeder Stein am Wegesrand erzählt von diesem Lied. Denn es ist ein ganz besonderes, ein einzigartiges Lied, das die Jünger da singen. Es ist das Lied, das die Engel an Weihnachten draußen auf dem Feld bei den Hirten gesungen haben. Das Lied von Gott, der ein Mensch wird wie wir. Das Lied von Jesus Christus, der dem König der Welt, der nicht auf dem hohen Ross daherkommt, sondern auf einem einfachen Esel. Ehre sei Gott in der Höhe, der heruntergekommen ist in unsere Tiefe!
Dieses Lied ist nicht verstummt. Das Lied klingt weiter – auch bei uns heute am Sonntag Kantate. Auch wenn in diesem Jahr unsere Kirchen nicht voller Musik und Gesang sind wie sonst am Sonntag Kantate. Auch wenn die Jugendlichen, die am heutigen Sonntag eigentlich ihre Konfirmation feiern wollten, nun noch warten müssen mit ihrem Fest. Das Lied, das die Engel auf den Feldern von Bethlehem angestimmt haben, klingt weiter.
Wenn schon die Steine dieses Lied singen, wieviel mehr dann wir. Wir sind doch viel mehr als ein Stein, wusste schon Katharina Zell. Und auch wenn wir in der jetzigen Zeit nicht in Gemeinschaft miteinander singen können: Wir tragen dieses Lied unserem Herzen: Das Lied von Gottes unermesslicher Liebe. Und unser Herz ist viel mehr als ein Stein. Lassen wir uns erweichen von Gottes Liebe, so wie Katharina Zell es in ihrer Zeit gemacht hat. So wie die Jünger damals ein Zeichen gesetzt haben für Gottes Liebe – damit alle es hören und sehen: „Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!“
Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer