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Gedanken zum Sonntag

Rogate

Predigt zum Sonntag Rogate, 9. Mai 2021

Jesus Sirach 35, 16-22a: Gott hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten. Er verachtet das Flehen der Waisen nicht noch die Witwe, wenn sie ihre Klage erhebt. Laufen ihr nicht die Tränen die Wangen hinunter, und richtet sich ihr Schreien nicht gegen den, der die Tränen fließen lässt? Wer Gott dient, den nimmt er mit Wohlgefallen an, und sein Gebet reicht bis in die Wolken. Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken, doch bis es dort ist, bleibt er ohne Trost, und er lässt nicht nach, bis der Höchste sich seiner annimmt und den Gerechten ihr Recht zuspricht und Gericht hält.

Liebe Mitchristen!

Unser heutiger Predigttext steht im Buch Jesus Sirach. Dieses Buch ist vielen von uns nicht so vertraut. Auch ich habe in meiner Bibel erstmal blättern müssen, bis ich dieses Buch gefunden habe. Und es gibt sogar Bibelausgaben, in denen dieses Buch gar nicht enthalten ist. Das Buch Jesus Sirach gehört zu den sogenannten apokryphen Schriften, die in der Zeit zwischen dem Alten und dem Neuen Testament entstanden sind. Jesus Sirach war ein jüdischer Gelehrter, der etwa um 200 vor Christus gelebt hat. Er wollte anderen eine Hilfestellung geben, wie sie ihr Leben im Sinne der Heiligen Schrift leben können. Was er dazu aufgeschrieben hat, hat später sein Enkel ins Griechische übersetzt. Damals gab es viele Angehörige des jüdischen Volkes, die außerhalb von Israel lebten und Griechisch als Muttersprache hatten. Auch diese Menschen sollten eine Handreichung haben, wie sie ihren Glauben leben und die Heilige Schrift verstehen können. Das Buch Jesus Sirach wurde also aufgeschrieben, um die Heilige Schrift zu erklären und in den gelebten Glauben einzubinden. Ganz ähnlich hat das auch Martin Luther gesehen. Er sagte über das Buch Jesus Sirach, es „ist der Heiligen Schrift nicht gleich zu halten, und doch nützlich und gut zu lesen.“

Eigentlich schade, dass wir diesen Ratschlag des Reformators so selten beherzigen, wie nützlich und gut zu lesen das Buch Jesus Sirach ist. Die neue Perikopenordnung, die wir nun seit einigen Jahren haben, hat das geändert. Auch Texte aus dem Buch Jesus Sirach sind jetzt als Predigttext vorgesehen. So wie der Text für den heutigen Sonntag. Und ich finde, auf diesen Text trifft das wirklich zu: Er ist nützlich und gut zu lesen. Dieser Text spannt einen ganz weiten Bogen: Von denen, die ganz unten sind, bis ganz nach oben zu den Wolken.

Menschen, die ganz unten sind: In der damaligen Zeit waren das die Armen, die Unterdrückten, die Witwen und Waisen. Diese Menschen ganz unten, die brauchen einfach Hilfe, damals wie heute. Sie brauchen Hilfe zum Lebensunterhalt, Brot, Geld, Kleidung, Mittel für medizinische Versorgung, Unterkunft, die Wiederfreischaltung des gesperrten Stromanschlusses, Schuldnerberatung. Witwen und Waisen waren damals arm. Sklaven waren unterdrückt. Wer sind die Armen und Unterdrückten bei uns, in unserer Zeit?

Viele davon führen ein Schattendasein, von dem wir kaum etwas wissen, auch wenn diese Menschen vielleicht ganz in unserer Nähe leben. Manche sind erst jetzt durch die Corona-Krise aus dem Schatten getreten und in unsere Bewusstsein gerückt: Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, bei denen es auf einmal nicht mehr selbstverständlich war, ob sie aus Osteuropa einreisen können. Zerlegehelfer in den Schlachthöfen, die so hart arbeiten und so beengt untergebracht sind, dass sie besonders gefährdet sind, sich mit Corona anzustecken. Arme und Unterdrückte in unserer Zeit. Sie haben kein Unterstützungsnetz. Sie können keine Hilfe organisieren. Es sind Entwurzelte am Rande unserer Gesellschaft. Kaum einer kennt sie. Auch in unseren Kirchengemeinden begegnen sie uns nicht. Aber Gott sieht ihre Tränen und hört ihr Schreien. Gott verachtet das Gebet dieser Menschen nicht, auch wenn es nicht so ist, wie wir uns gelebten Glauben vorstellen.

Wie stellen wir uns gelebten Glauben vor? Vielleicht denken wir an gemeinsame Gebete im Gottesdienst. Oder an die tägliche, persönliche Andacht, für die ich mir eine bestimmte Zeit des Tages freihalte. Der Text aus dem Buch Jesus Sirach macht uns Mut, unseren Glauben auch weiterhin so zu leben: „Wer Gott dient, den nimmt er mit Wohlgefallen an, und sein Gebet reicht bis in die Wolken.“ So heißt es da. Aber unser Predigttext erinnert uns daran: Gott hört auch die, die keine solchen festen Gebetsformen haben. Unser Text nennt sie die Demütigen. Gemeint ist damit: Die, die ganz unten sind. Die, die ein Schattendasein führen. Gerade die hört Gott. Ihr Gebet dringt nicht nur bis an die Wolken. Ihre Tränen, ihre wortlosen Schreie dringen noch weiter: Sie dringen durch die Wolken hindurch. Gerade auch dann, wenn sie die Erfahrung machen: Ich dringe nicht durch mit meinem Anliegen. Es dauert alles so lange. Immer wieder werde ich weggeschickt, von einem zum anderen. Niemand ist zuständig, niemand kann helfen. Es ist alles wie ein undurchdringlicher Nebel.

Manchmal geht es uns ja auch mit Gott so. Es ist wie ein undurchdringlicher Nebel zwischen Gott und uns. Wir verstehen Gott nicht bis ins Letzte. Wir können Gottes Entscheidungen nicht durchschauen. Doch die gute Nachricht ist: Die Gebete von denen, die ganz unten sind, dringen durch die Wolken. Ja, auch die Gebete der Flüchtlinge und Fremdarbeiter. Auch wenn wir diese Menschen noch nie in unserer Gemeinde gesehen haben und vielleicht auch nie sehen werden. Ihre Gebee dringen durch die Wolken. Und das ist nun wirklich nicht der Verdienst dieser Menschen. Es ist Gottes Entscheidung, so zu bevorzugen. So wie Jesus es gesagt hat: „Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert, denn ihr sollt satt werden. Selig seid ihr, die ihr jetzt weint, denn ihr sollt lachen.“ (Lk 6,20-22)

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer