Predigt zum 17. Sonntag nach Trinitatis, 12. Oktober 2025
Liebe Mitchristen!
Wenn ich an den Tag meiner Konfirmation zurückdenke, dann fällt mir außer meinem eigenen Konfirmationsspruch noch ein weiterer Konfirmationsspruch ein, der nicht mein eigener war. Ein anderes Mädchen aus meiner Konfirmandengruppe hatte dieses Bibelwort als Konfirmationsspruch bekommen. Damals war es ja so, dass die Konfirmanden den Bibelspruch, der sie durchs Leben begleiten sollte, nicht selbst ausgesucht haben. Der Pfarrer hat die Konfirmationssprüche für seine Konfirmanden ausgewählt, sozusagen als Geschenk zur Konfirmation. Man wusste seinen Konfirmationsspruch also erst dann, wenn der Pfarrer ihn im Konfirmationsgottesdienst laut vorlas. Und wie gesagt, nicht nur mein eigener Konfirmationsspruch ist mir von meinem Konfirmationsgottesdienst damals in Erinnerung geblieben, sondern auch der von einer Mitkonfirmandin, von Isabelle.
Als unser Pfarrer den Konfirmationsspruch von Isabelle vorlas, wurde es unruhig unter uns Konfirmanden. Einen solchen Bibelspruch hatten wir noch nie gehört. „Steht das auch in der Bibel?“ fragten wir uns. Der Spruch hieß: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ Und ja- er steht wirklich in der Bibel, in Psalm 18,30. Zugegeben- ich war damals ein bisschen neidisch auf Isabelle, dass sie so einen schönen Konfirmationsspruch bekommen hatte: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ Das habe ich mir damals als Konfirmandin wohl auch gewünscht. Und dabei habe ich nicht nur an die Mauern aus Stein gedacht, sondern auch an die Mauern im übertragenen Sinn. Immer wieder stoßen wir ja an Grenzen und wissen nicht weiter. Immer wieder ist unsere Perspektive eingeengt und unser Blick getrübt, wie wenn hohe Mauern uns die Sicht nehmen würden. Und dann so ein Bibelwort: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ Und plötzlich gibt es doch Wege und Auswege, wo wir fast schon die Hoffnung aufgegeben haben: Ein Waffenstillstand in Gaza. Die Hoffnung auf Frieden wächst. Danke, Gott.
Gegen alle Hoffnungslosigkeit, gegen alle Perspektivlosigkeit wollen wir daran festhalten: Gott ist da. Gott hat seine Welt nicht vergessen. Gott sorgt für uns Menschen. Gott kann helfen. Ja: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ Ganz konkret sind die Mauern für viele Menschen auf der Welt: Mauern und Stacheldrähte, die Migranten fernhalten und oft zur Todesfalle werden. Mauern der Verzweiflung. Vergessen wir die Menschen nicht, die auf der Flucht sind!
Ganz konkret waren die Mauern auch in biblischen Zeiten für die Israeliten, die nach langer Wüstenwanderung endlich ins Kulturland kamen (Josua 2, 1-21): War dies wirklich das Land, das Gott ihnen versprochen hatte- das Land, in dem Milch und Honig fließt? Ja, Milch und Honig waren da, das war keine Frage. Aber da waren auch diese Mauern mitten im Land. Hoch und feindlich ragten sie auf, die Mauern der Stadt Jericho. Die Wächter an den Stadttoren waren schwer bewaffnet. Die Israeliten hatten Angst. Denn sie waren die Fremden in diesem Land, und sie spürten, wie waren nicht willkommen. Aber zwei Männer von den Israeliten waren mutig: Wie es wohl hinter den Stadtmauern von Jericho aussieht? Die beiden Männer wollten es wissen. Josua, der Anführer der Israeliten, beriet sich mit ihnen, und schickte sie los. Sie sollten es herausfinden.
Tagsüber war das Stadttor von Jericho offen. Viele Menschen gingen an den Wächtern vorbei: Händler, die auf den Markt wollten und viele mehr. Die beiden israelitischen Männer fielen da kaum auf und konnten unbehelligt passieren. Gleich hinter dem Stadttor war ein Gasthaus. Die Frau, die es führte, hieß Rahab. Sie war eine unverheiratete Frau, die viel Männerbesuch hatte- eine Frau mit einem schlechten Ruf. Auch in Rahabs Haus fallen die beiden fremden Männer zuerst einmal nicht auf, die sich bei ihr einquartiert haben. Aber irgendjemand muss wohl doch bemerkt haben, dass hier etwas nicht stimmte: Zwei Fremde sind in die Stadt gekommen- vielleicht sind sie eine Gefahr für die Stadt? Vielleicht sind es Spione? Der König von Jericho erfährt davon. Er schickt seine Soldaten, um die beiden Männer dingfest zu machen. Bald schon stehen die Soldaten bei Rahab vor der Tür und fragen nach den beiden fremden Männern: Die waren doch hier bei dir, oder? Wo sind sie jetzt? So fragen sie Rahab. Eigentlich wäre jetzt das Naheliegendste gewesen, dass Rahab diese beiden Männer ausliefert. Aber sie tut es nicht. Sie versteckt die beiden bei sich auf dem Dach und sagt den Soldaten: Die beiden Männer sind schon längst wieder weg, raus durchs Stadttor. Lauft schnell hinterher- dann holt ihr sie vielleicht noch ein!
„Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“ Die beiden israelitischen Männer saßen in der Falle dort in der Stadt Jericho, die rundherum von Mauern umgeben war, und die wenigen Stadttore wurden am Abend fest verschlossen. Aber Gott wusste einen Weg für diese beiden Männer- einen Weg über die Mauer. Von ihrem Haus direkt an der Stadtmauer ließ Rahab die beiden Männer durchs Fenster an einem Seil die Stadtmauer hinunter. So waren die beiden frei und gerettet.
Zurück bei Josua und den anderen Israeliten konnten sie berichten: Wir brauchen keine Angst zu haben vor den hohen Mauern dieser Stadt, und den fremden Menschen hinter diesen Mauern. Gott hilft uns, auch hier im fremden Land. Ja, auch hier schickt Gott uns Menschen, die uns die Hand reichen und uns helfen, die Mauern zu überwinden, die sonst unüberwindlich sind für uns. Ja, liebe Mitchristen: Mögen wir alle immer wieder solche Menschen sein wie Rahab: Menschen, die anderen helfen, die Mauern zu überwinden, die zwischen uns stehen. Menschen, die einander die Hand reichen, so wie Jesus es gewollt hat.
Jesus, der Sohn Gottes, der ohne Sünde war und Rahab, die Frau aus Jericho mit dem schlechten Ruf- passt das zusammen? In der Bibel passt es zusammen. Im Stammbaum von Jesus in Matthäus 1,5 finden wir auch Rahab aufgezählt unter den Vorfahren von Jesus. Rahab, die Frau, die anderen geholfen hat, Mauern zu überwinden. Ja: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.“
Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer
