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Gedanken zum Sonntag

3. Sonntag nach Epiphanias

Predigt zum 3. Sonntag nach Epiphanias, 23. Januar 2022

Matthäus 8, 5-13: Als aber Jesus nach Kapernaum hineinging, trat ein Hauptmann zu ihm; der bat ihn und sprach: Herr, mein Knecht liegt zu Hause und ist gelähmt und leidet große Qualen. Jesus sprach zu ihm: Ich will kommen und ihn gesund machen. Der Hauptmann antwortete und sprach: Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund. Denn auch ich bin ein Mensch, der einer Obrigkeit untersteht, und habe Soldaten unter mir; und wenn ich zu einem sage: Geh hin!, so geht er; und zu einem andern: Komm her!, so kommt er; und zu meinem Knecht: Tu das!, so tut er’s. Als das Jesus hörte, wunderte er sich und sprach zu denen, die ihm nachfolgten: Wahrlich, ich sage euch: Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden! Aber ich sage euch: Viele werden kommen von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen; aber die Kinder des Reichs werden hinausgestoßen in die äußerste Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappern. Und Jesus sprach zu dem Hauptmann: Geh hin; dir geschehe, wie du geglaubt hast. Und sein Knecht wurde gesund zu derselben Stunde.

Liebe Mitchristen!

„Können wir den Patenonkel für unser Kind nachträglich ändern?“ Diesen ungewöhnlichen Wunsch hatte eine Mutter an mich herangetragen. Ich habe diese Frau dann gefragt, warum sie das möchte. Und sie hat mir ihre Geschichte erzählt: Die Geschichte von ihrem 5jährigen Sohn Leon, der Krebs hatte. Viele Woche war er in Tübingen in der Kinderklinik. Seine Eltern haben ihn begleitet, und auch sein Onkel Michael, der nicht sein Patenonkel war. Der eigentliche Patenonkel hatte sich zurückgezogen. Vielleicht war er mit der Situation überfordert – ich weiß es nicht. Es war eine lange Zeit des Hoffens und Bangens für diese Familie. Und immer wieder gab es Phasen, wo die Ärzte gesagt haben: „Es sieht nicht gut aus für Leon. Wir wissen nicht, ob er es schaffen wird.“ Doch dann ging es aufwärts. Die Hoffnung wuchs: Leon wird es schaffen. Endlich durfte er wieder nach Hause und konnte sogar wieder in den Kindergarten gehen. „Wir haben so viel Schweres erlebt in dieser Zeit“, sagte mir Leons Mutter. „Wir haben so viele Kinder sterben sehen dort in der Kinderklinik auf der Krebsstation. Und unser Kind ist gesund geworden. Wir wollen das im Gottesdienst feiern; mit Michael als neuem Paten für Leon.“ Diese Mutter und ich, wir haben uns dann so geeinigt: Der bisherige Pate wird nicht gestrichen, und Leon bekommt seinen Onkel Michael als zusätzlichen Paten. So haben wir es in einem Gottesdienst gefeiert. Viele Jahre ist das nun her, und ich weiß nicht, was aus Leon inzwischen geworden ist, dort in meiner früheren Gemeinde. So Gott will, müsste er inzwischen wohl schon ein junger Mann sein.

Ein schwer krankes Kind ist gesund geworden, und die Eltern wissen: Es hätte auch ganz anders kommen können. Die Eltern haben es hautnah erlebt dort in der Kinderklinik: Andere Kinder mit derselben Krankheit sind gestorben. Dass uns das Leben geschenkt ist, versteht sich nicht von selbst. Dass ich heute das Licht des neuen Morgens sehen darf, ist keine Selbstverständlichkeit. Es ist ein Geschenk, diesen neuen Tag leben zu dürfen; es ist Gnade. Und es ist ein Geschenk, wenn in schweren Zeiten Menschen da sind, die mich begleiten. So wie Leon von seinen Eltern und von seinem Onkel Michael begleitet wurde. Wenn wir das erleben dürfen, dann ist das ein Grund, Gott dankbar zu sein. Es ist ein Grund, einen Gottesdienst zu feiern. So wie die Familie von Leon es getan hat. So wie wir es Sonntag für Sonntag miteinander tun. Immer wieder gibt es solche Wunder, dass ein Mensch gesund wird. Auch unsere heutige Bibelgeschichte erzählt von einem solchen Wunder. Ein junger Mann ist schwer krank. „Es sieht nicht gut aus“, sagen die Ärzte. „Wir wissen nicht, ob er es schaffen wird.“ Dieser junge Mann hat einen Menschen, der für ihn da ist. Ein römischer Hauptmann ist das, und der junge Mann ist sein Diener. Warum geht ein römischer Hauptmann wegen seines Dieners zu einem jüdischen Rabbi -was ein römischer Hauptmann damals normalerweise nie machen würde? Warum ist ihm dieser Diener so wichtig? Was verbindet die beiden Männer außer dem Dienstverhältnis? Einen Hinweis gibt der Evangelist Lukas, der diese Geschichte auch erzählt. Bei Lukas heißt es, dass dieser Diener dem Hauptmann „lieb und wert war“ (Lukas 7,2). Liebe zwischen zwei Männern war in der römischen und griechischen Kultur zur Zeit Jesu nichts Anstößiges. Ja, ich möchte sagen. Die Liebe zwischen zwei Menschen ist eigentlich nie ein Grund, Anstoß zu nehmen – wenn es die frei entschiedene Liebe zwischen zwei Menschen ist, wenn niemand Drittes dadurch hintergangen wird. Liebe, das bedeutet Gegenseitigkeit, Begegnung auf Augenhöhe. Einer ist für den anderen da. Beide übernehmen Verantwortung füreinander. Ich erlebe unsere Bibelgeschichte zunächst einmal so. Denn dieser Hauptmann denkt nicht nur an sich und seine Bedürfnisse. Er denkt an seinen Diener. Er hat diesen jungen Mann ins Herz geschlossen. Und es dreht ihm das Herz um, wie dieser junge Mann leidet. So tut er alles, um ihm zu helfen. Die kulturellen Schranken zwischen der römischen Besatzungsmacht und der jüdischen Bevölkerung, sein Stolz als Hauptmann – das alles spielt keine Rolle mehr für ihn. Seine Liebe und Sorge treiben ihn zu Jesus: „Herr, mein Diener liegt gelähmt zu Hause und hat große Schmerzen.“ Jesus antwortet: „Ich will kommen und ihn gesund machen.“ Jesus schert sich nicht um Regeln und Grenzen. Grenzenlose Liebe zu den Menschen leitet ihn. Keine Volkszugehörigkeit, keine Religionsgrenze, keine Berufsgruppe kann ihn davon abhalten, zu kommen und zu heilen. Aber der Hauptmann will Rücksicht auf Jesus und seinen jüdischen Glauben nehmen. Er weiß: Als Jude würde Jesus sich nach damaligem Verständnis verunreinigen, wenn er das Haus eines Nichtjuden betritt. Das will er von Jesus nicht verlangen. Aber er ist überzeugt davon: Jesus kann helfen. „Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Diener gesund!“ Wie kommt der Hauptmann zu dieser Überzeugung? Es hat etwas mit seinem militärischen Hintergrund zu tun. So erklärt er es Jesus: Er selber hat als Hauptmann Befehlen von oben zu gehorchen. Und wenn er zu einem seiner Soldaten sagt: Geh hin! Dann geht er. Und wenn er zu seinem Diener sagt: Tu das! Dann tut er es.

An dieser Stelle wird mir der Hauptmann etwas unheimlich. Befehl und Gehorsam – wie lebt er das wohl in der Beziehung zu diesem jungen Mann, den er liebt? Eine Beziehung mit Machtgefälle ist das. Der eine ist der Vorgesetzte, der andere ist der Knecht. Liebe bedeutet Beziehung auf Augenhöhe. Liebe bedeutet Freiheit. Das gilt für alle Liebesbeziehungen, egal, welches Geschlecht die beiden Partner haben. Ich kann es nicht beurteilen, ob diese beiden Männer damals ihre Beziehung in Freiheit und auf Augenhöhe leben konnten. Vielleicht konnten sie es. Dass der Hauptmann für seinen Knecht Verantwortung übernimmt, spricht dafür. Trotzdem muss ich an dieser Stelle der Geschichte an die vielen Menschen denken, die Sexualität unter dem Vorzeichen von Befehl und Gehorsam erleben mussten, und die nicht danach gefragt wurden, ob sie das wollen. Ich denke an die Menschen, die sexuell missbraucht worden sind. An all das, was das Missbrauchs-Gutachten der katholischen Kirche im Erzbistum München aufgedeckt hat. An die vielen menschlichen Schicksale, die sich dahinter verbergen. Und ich denke, wir als evangelische Kirche sollten hier nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Denn auch in der evangelischen Kirche gibt es Fälle von Missbrauch. Es ist wichtig, dass das alles aufgearbeitet wird – im Namen Jesu Christi, der auf der Seite der Opfer steht, und für den jeder Mensch Würde und Wert hat. Im Namen Jesu Christi, der die Liebe gelebt hat – Liebe in Freiheit und ohne Machtgefälle.

Jesus wundert sich über die Worte des Hauptmanns. Ich denke, er wundert sich darüber, dass dieser Mann jetzt von Befehl und Gehorsam redet. Befehl und Gehorsam – das passt nicht, wenn es um die Liebe geht. Das darf da keinen Platz haben. Und dass Jesus dann noch bittere Worte spricht gegen seine eigenen Volksgenossen, die nicht zum Glauben an ihn gefunden haben, das ändert nichts daran. Ich denke, Jesus ist hier einfach enttäuscht und verletzt von diesen Menschen aus seinem eigenen Volk. Jesus wundert sich über die Worte des Hauptmanns – und trotzdem: Es geht ja um diesen kranken Menschen, der im Dienst dieses Hauptmanns steht. Ein Mensch, der jetzt Hilfe braucht. Und Jesus hilft und heilt. Aber dem Hauptmann sagt er: „Dir geschehe, wie du geglaubt hast.“ Ich finde das wichtig, dass Jesus hier sagt: „wie du geglaubt hast“ und nicht: „weil du geglaubt hast“. Jesus übernimmt damit nicht die Denkart des Hauptmanns mit diesem Schema von Befehl und Gehorsam. Aber Jesus würdigt die Liebe, die den Hauptmann bewegt hat, sich an ihn zu wenden. Und im Heilen schenkt Jesus seine Liebe. Liebe überschreitet Grenzen und verbindet uns. Liebe kann heilen. Leben wir aus dieser Liebe!

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer