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Gedanken zum Sonntag

Estomihi

Predigt zum Sonntag Estomihi, 19. Februar 2023

Liebe Mitchristen!

„Liebe wird immer da sein“. So heißt der Titel eines Bildes, gemalt von einem Mann namens Bayram. Ein romantisches Bild ist das. Zu sehen sind zwei Schwäne, die sich an der Brust zärtlich berühren und deren Köpfe einander liebevoll zugeneigt sind. Die geschwungenen Hälse der beiden Schwäne bilden die Form eines Herzens. Am Himmel steht der Mond. Er bescheint die liebenden Schwäne und lässt ihr Spiegelbild im Wasser erscheinen.

„Liebe wird immer da sein“ – das ist eine steile Aussage, gerade in unserer Zeit, in der viele Ehen scheitern und viele Menschen unter der Einsamkeit und Lieblosigkeit leiden, die sie umgibt. Wäre es da nicht passender, etwas vorsichtiger zu formulieren, zum Beispiel: „Liebe sollte immer da sein“? Hören wir, was der Apostel Paulus in 1. Kor 13 über die Liebe schreibt:

„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe höret nimmer auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“

„Die Liebe hört niemals auf“, so heißt es da bei Paulus. Alles andere wird an ein Ende kommen – alles, auf das wir heute große Stücke halten. Wenn einer gut reden kann und die anderen mit Worten überzeugen – ohne die Liebe ist das alles bloß viel Lärm um nichts. Wenn einer intelligent ist und neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnt – ohne die Liebe ist das bloß, als ob der die Weisheit mit Löffeln gefressen hätte. Wenn einer fest im Glauben steht und sozial engagiert ist – ohne die Liebe ist das bloß Fanatismus oder nur Mittel zum Zweck, um vor anderen besser dazustehen, ganz nach dem Motto: Gutes tun und darüber reden.

Die Liebe ist frei von solchen Hintergedanken und erwünschten Nebeneffekten. Da geht es nicht darum, dass ich selber groß rauskomme und gut dastehe. Da geht es um den anderen, um meinen Mitmenschen, der mir wichtig ist. Ja, da geht es sogar um die, mit denen ich eigentlich nichts zu tun haben wollte. „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel“ (Mt 5,44). So hat Jesus es uns aufgetragen. Es ist ein schwerer Auftrag, einer der uns immer wieder herausfordert und doch auch immer wieder scheitern lässt. Ähnlich schwer erscheint es, die Liebe so zu leben, wie Paulus sie den Korinthern nahe legt: „Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“ Wer kann dem gerecht werden? Wer schafft das, die Liebe so zu leben, wie sie hier beschrieben wird?

Es gibt nur einen, der das geschafft hat, die Liebe so zu leben. Jesus Christus hat die Liebe gelebt bis zum Ende. Er hat alles ertragen und erduldet, indem er ans Kreuz gegangen ist für uns – allein aus Liebe. Das ist die Liebe, die immer da sein wird. Diese Liebe ist vollkommen. Die Liebe, die wir auf dieser Welt erleben dürfen, ist ein Abglanz dieser Liebe. Es ist etwas Wunderbares, wenn zwei Menschen ihren Weg durch das Leben gemeinsam gehen. Immer wieder erzählen mir Paare, über welch ungewöhnliche und verschlungene Wege sie zueinander gefunden haben oder welch schwere und krisenreiche Zeiten sie miteinander durchgestanden haben. Welch ein Wunder ist es, wenn die Liebe zweier Menschen tragfähig wird und bleibt. Welch ein Wunder ist es überhaupt, dass wir Menschen einander Liebe geben können, in der ganzen Vielfalt von Beziehungen, durch die wir miteinander vernetzt sind. Egal, in welcher Lebensform wir leben, wir alle brauchen Liebe, vom kleinen Baby bis zum Hochbetagten.

Die Liebe ist ein Geben und Nehmen, und sie ist lebensnotwendig. Und doch ist sie unvollkommen. Sie ist nur ein schwacher Abglanz der göttlichen Liebe, wie eine Wasserspiegelung in einem Teich. Wir erkennen nur die Umrisse, vieles bleibt unklar und verschwommen, wie das Spiegelbild der Schwäne auf dem Bild. Der Himmel hängt nicht immer voller Geigen, er ist oft dunkel und bedrohlich, wie ihn der Maler hier darstellt – eine schier undurchdringliche Finsternis, die das Mondlicht auch nicht aufhellen kann. Nicht sanft und golden steht der Mond hier am Himmel, sondern in kaltem, harten Weiß, das den Kontrast zwischen dem schwarzen Himmel und den weißen Schwänen beinahe gespenstisch anmuten lässt. Es ist eine harte und dunkle Welt, aus der der Künstler mit seinem Bild zu uns spricht. Bayram hat das Bild gemalt, als er im Gefängnis war. Die Straftäter haben Bilder gemalt, in Zusammenarbeit mit einer Kunsttherapeutin. Aus den Bildern ist ein Kalender entstanden. Durch meine Arbeit als Gefängnisseelsorgerin habe ich diesen Kalender kennen gelernt. Ich kenne nur den Kalender. Die Menschen, die die Kalenderbilder gemalt haben, kenne ich nicht. Aber aus meiner Arbeit mit Gefangenen in Rottweil weiß ich, wie wichtig es für diese Menschen ist, einen ehrlichen Blick auf ihr eigenes Leben werfen zu können. Vieles ist schiefgelaufen in ihrem Leben. Sie brauchen eine Neuorientierung. Oft fällt es diesen Menschen schwer, über die dunklen Punkte in ihrem Leben zu reden, über die eigene Schuld und das eigene Versagen. Bilder sagen oft mehr als Worte. Manches, das man in Worten nur schwer ausdrücken kann, lässt sich in einem Bild darstellen: Gedanken und Gefühle, Hoffnungen und Wünsche, Irrwege und Auswege.

„Liebe wird immer da sein.“ So nennt Bayram sein Bild. Wer im Gefängnis sitzt, hat in der Regel andere Erfahrungen gemacht. Die Erfahrung, dass Gewalt an die Stelle der Liebe tritt – Gewalt, die sich nicht ungeschehen machen lässt, weil sie ihre Spuren hinterlassen hat: Wunden und Narben, nicht nur am Körper, sondern auch an der Seele. Ich verstehe Bayrams Bild als ein Bild gegen alle Erfahrung, der Erfahrung zum Trotz: Die Liebe, die trotz allem da ist, trotz der Dunkelheit, die sie umgibt.

„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Die Liebe ist die größte, sagt Paulus. Sie ist der Ausgangspunkt für Glaube und Hoffnung: Der Glaube glaubt, dass die Liebe in der Dunkelheit unserer Welt da ist, auch da, wo wir sie nicht erkennen. Die Hoffnung hofft, dass die Liebe die Dunkelheit unserer Welt durchdringen wird. Liebe wird immer da sein, denn Gott selbst ist die Liebe. Gott hat um die Dunkelheiten unserer Welt nicht einen großen Bogen gemacht. Er selbst hat Gewalt und Unrecht erlitten. Jesus Christus ist unschuldig verurteilt worden zum Tod am Kreuz. Nicht mit Gewalt hat er reagiert auf diese Gewalt, die ihm angetan wurde, sondern mit Liebe. So konnte er sagen: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Die Liebe ist stärker als die Gewalt. Das ist die Botschaft von Jesu Tod und Auferstehung.  Das ist unser christlicher Glaube, unsere christliche Hoffnung. Es ist ein Glaube und eine Hoffnung oft gegen allen Augenschein, immer in dem Wissen, dass alles Stückwerk ist, was wir hier in dieser Welt erleben. Und doch dürfen wir immer wieder erleben, dass Liebe da ist, wo wir sie nicht erwarten. Oft sind es nur kleine Gesten, die doch so viel bewirken können: Ein paar freundliche Worte, die die Einsamkeit vertreiben. Die Hand, die zur Versöhnung ausgestreckt ist. Ein gutes Wort, das Trost spendet in schweren Zeiten. All das sind Zeichen von Gottes Liebe – Zeichen, die wir selbst setzen können – bis wir einst in Gottes Vollkommenheit sein werden und das Stückwerk aufhören wird.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

 

 

 

 

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Gedanken zum Sonntag

Septuagesimae

Predigt zum Sonntag Septuagesimae, 5. Februar 2023

Matthäus 9, 9-13: Jesus ging von Kapernaum weiter. Da sah er einen Mann an seiner Zollstation sitzen. Er hieß Matthäus. Jesus sagte zu ihm: »Komm, folge mir!« Da stand er auf und folgte ihm. Später war Jesus im Haus zum Essen. Viele Zolleinnehmer und andere Leute, die als Sünder galten, kamen dazu. Sie aßen mit Jesus und seinen Jüngern. Als die Pharisäer das sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: »Warum isst euer Lehrer mit Zolleinnehmern und Sündern?« Jesus hörte das und antwortete: »Nicht die Gesunden brauchen einen Arzt, sondern die Kranken. Überlegt doch einmal, was es bedeutet, wenn Gott sagt: ›Barmherzigkeit will ich und keine Opfer!‹ Ich bin nicht gekommen, um die Gerechten zu rufen, sondern die Sünder.«

Liebe Mitchristen!

Stellen Sie sich vor, Sie sind mit dem Auto unterwegs. Und direkt vor Ihrem Auto fährt ein Polizeifahrzeug. An dem Polizeifahrzeug leuchtet die Aufschrift: „Bitte folgen.“ Was müssen Sie jetzt machen? Im Fragenkatalog zur theoretischen Fahrprüfung gibt es auf diese Frage drei mögliche Antworten, und nur eine ist richtig: 1. Nur Schwertransporte müssen dem Polizeifahrzeug folgen. 2. Alle Fahrzeuge, die in gleicher Richtung fahren, müssen dem Polizeifahrzeug folgen. 3. Nur Sie müssen dem Polizeifahrzeug folgen. Gar nicht so einfach, die theoretische Fahrprüfung. Welche Antwort ist richtig? Richtig ist die Antwort: Nur Sie müssen dem Polizeifahrzeug folgen. „Bitte folgen.“ Das gilt nur für mich ganz persönlich. Eine Aufforderung, der ich besser nachkommen sollte, wenn da das Polizeifahrzeug vor mir fährt. Wenn ich das dann nicht tue, wird es teuer für mich. „Bitte folgen.“ Das sagt Jesus in unserer biblischen Geschichte zu dem Zolleinnehmer Matthäus. „Bitte folgen.“ Das gilt auch für mich. Das gilt für jeden von uns ganz persönlich: Nur Sie müssen Jesus folgen.

Freilich, der Vergleich mit einem Polizeiauto hinkt. Wenn ich Jesus folge, dann tue ich das nicht unter Zwang und Bußgeldandrohung. Ich tue es freiwillig. Und doch: Es hat auch einen Preis für mich, wenn ich mein Leben nicht auf Gott ausrichte. Matthäus, der Zolleinnehmer, hat es so erlebt. Er hat für sein Leben eine Entscheidung getroffen: Geld und Reichtum, das ist mir wichtiger als mein Leben an Gott auszurichten und auf andere Menschen Rücksicht zu nehmen. Matthäus hat sich entschieden, mit den Römern zusammenzuarbeiten, mit der damals verhassten Besatzungsmacht. Da sitzt er also in seinem Zollhäuschen an der Stadtmauer. Die Bauern kommen, die ihre Ware bringen und sie in der Stadt auf dem Markt verkaufen wollen. An der Zollstation müssen sie den Zoll zahlen. Matthäus verdient gutes Geld dabei, und seinem Verdienst sind nach oben keine Grenzen gesetzt. Denn es kümmert niemanden, wenn er den Durchreisenden und Händlern an der Zollstation mehr Geld abnimmt, als die Römer verlangen. Korruption war weit verbreitet unter den Zolleinnehmern in Israel.

Matthäus hat Geld. Und er hat sich entschieden, dass ihm das wichtiger ist, als sein Leben nach Gott auszurichten. Aber es hat seinen Preis für ihn, dass er sein Leben nicht nach Gott ausrichtet. Es hat den Preis, dass er allein dasteht. Dass er einsam ist. Dass er bei allen anderen unbeliebt ist. Denn die anderen sagen über die Zolleinnehmer: Das sind Halsabschneider, Betrüger, Faulpelze, Menschen mit unehrlicher Arbeit. Nur Jesus redet anders mit diesem Zolleinnehmer, als es die Anderen tun. Matthäus bekommt eine neue Chance. Folge mir, sagt Jesus zu ihm.

Folge mir, sagt Jesus auch zu jedem von uns. Folge mir. Gott braucht dich. Folge mir. Du gehörst dazu. Du musst nicht allein bleiben. Folge mir. Was kaputt ist in deinem Leben, es kann wieder gut werden oder anders gut werden. Folge mir, sagt Jesus. Jesus lässt es nicht bei leeren Worten bewenden. Er setzt sich mit diesem Zolleinnehmer Matthäus und mit anderen Zolleinnehmern und Sündern an einen Tisch. Was sind das für Sünder? Ich denke an die Geschichte von der Ehebrecherin, wo keiner den ersten Stein wirft, weil alle Menschen Sünder sind. Solche Menschen wie diese Ehebrecherin stelle ich mir vor, die da mit Jesus am Tisch sitzen. Oder Frauen, die keine Familie haben, so dass sie gezwungen sind, als Prostituierte zu arbeiten, um nicht zu hungern. Das sind Menschen, von denen die Leute sagen: Das sind Sünder. Das sind Sünderinnen. Menschen, mit denen keiner was zu tun haben will. Was für Menschen könnten das heute sein? Ich bin als Seelsorgerin seit einigen Monaten auch im Gefängnis tätig. Dort begegne ich Menschen, die einer langen Haftstrafe entgegensehen. Ich sage ihnen: „Bei Gott haben Sie trotzdem eine Chance. Und wenn Sie rauskommen, und sei es erst in 10 Jahren, dann ist es es wert, es anders zu probieren im Leben als auf kriminelle Weise.“ Es kommt mir selber steil vor, so zu reden. Aber ich weiß, Jesus hätte auch so gesprochen. Er hätte sich mit diesen Menschen an einen Tisch gesetzt.

Folge mir, sagt Jesus. Und er setzt sich an einen Tisch mit Zolleinnehmern und Sündern. Jesus lädt diese Menschen ein: Iss mit mir! Komm! Wie viel Wirkung kann in so einer Einladung stecken! Wenn Jesus sich mit an den Tisch setzt, da geht ein Stück Himmel auf: Gott sieht dich. Gott hat dich nicht vergessen. Du gehörst dazu. Du musst nicht allein am Tisch sitzen. Viele Menschen essen heutzutage allein. Ja, auch bei uns zuhause, wo mein Sohn und ich zusammen leben, ist es oft so, weil unsere Zeiten und Termine nicht zusammenpassen. Und doch geht es uns beiden so, dass es uns lieber ist, wenn wir nicht allein essen, sondern miteinander. Mein Sohn hat mir dazu erzählt, dass es einen neuen Trend gibt: Wenn man allein isst, dann schaut man beim Essen auf Youtube ein Video an von jemandem, der gerade auch isst. Ganz verschiedene Videos gibt es da: Solche, wo jemand sehr gesittet isst und solche, wo jemand das Essen in sich reinschlingt. Aber immer ist es jemand, der isst, das ist wichtig. Ein Trend aus Korea ist das- aus der Großstadt, wo Menschen viel allein sind beim Essen. Es hat mich nachdenklich gemacht, dass es so einen Trend gibt, das Menschen sich sagen: Wenn ich schon allein bin beim Essen, dann will ich wenigstens auf dem Bildschirm noch jemanden bei mir haben, der auch gerade isst und mir so Gesellschaft leistet.

Auch im Gottesdienst beim Abendmahl wollen wir miteinander essen und trinken. Wir wollen uns daran erinnern, dass Jesus mitten unter uns ist, wenn wir das Abendmahl feiern. Jesus setzt sich an einen Tisch mit uns. Mit ihm haben wir Gemeinschaft, so wie wir sind. Ganz unterschiedlich sind wir mit dem, was wir mitbringen: Mit den Entscheidungen, die wir in unserem Leben getroffen haben – Entscheidungen, die uns von Gott weggeführt haben, oder uns näher zu ihm gebracht haben. Wo auch immer wir stehen, wenn wir auf unser Leben blicken – wir dürfen uns darauf verlassen, dass wir bei Jesus eingeladen sind. Jesus sagt uns: Folge mir. Komm, lass dich einladen. Iss mit mir. Hab Gemeinschaft mit mir. Ich bin da für dich. Ich bin mitten unter euch, wenn ihr das Abendmahl feiert. In unserem Bibeltext sagt Jesus: „Nicht die Gesunden und Starken brauchen einen Arzt, sondern die Kranken. Nicht die Gerechten, sondern die Sünder.“

Wer sind die Starken, wer sind die Kranken? Ich denke, wir alle können in unserem Leben immer wieder an der einen oder an der anderen Stelle stehen. Es ist in Ordnung, wenn wir jetzt gerade die Kranken sind und Hilfe brauchen, und diese dann auch annehmen. Und es ist in Ordnung, wenn wir gerade die Starken und Gesunden sind, und für die anderen eine Hilfe sein können. Nicht in Ordnung ist es aber, wenn wir denken: Dieser andere Mensch ist hier fehl am Platz, mit allem, was er mitbringt aus seinem Leben. Immer wieder sind wir in dieser Gefahr. Immer wieder sollen wir uns daran erinnern lassen, dass wir auch die Menschen, die uns ferner sind, als unsere Brüder und Schwestern annehmen, mit denen wir in Jesus Christus verbunden sind. Ich denke noch einmal an den kurzen Satz, den Jesus uns hier mit auf den Weg gibt: Nicht die Starken und Gesunden brauchen einen Arzt, sondern die Kranken. Ich finde das auch für mich persönlich eine große Entlastung – zu wissen, ich bin willkommen, so wie ich bin. Mit allen Brüchen und Fehlern, die zu meinem Leben gehören. Mit allen Hoffnungen und Sehnsüchten. Ich bin eingeladen. Ich darf kommen. Bei Gott bin ich willkommen. Jesus Christus lädt uns alle an seinen Tisch.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

 

 

 

 

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letzter Sonntag nach Epiphanias

 

Predigt am letzten Sonntag nach Epiphanias, 29. Januar 2023

Matthäus 17, 1-9: Und nach sechs Tagen nahm Jesus mit sich Petrus und Jakobus und Johannes, dessen Bruder, und führte sie allein auf einen hohen Berg. Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete weiß wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten mit ihm. Petrus aber antwortete und sprach zu Jesus: Herr, hier ist gut sein! Willst du, so will ich hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine. Als er noch so redete, siehe da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören! Als das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und fürchteten sich sehr. Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht! Als sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein. Und als sie von Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt von dieser Erscheinung niemandem sagen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist.

Liebe Mitchristen!

Wo können Sie am besten Abstand gewinnen vom Alltag und die alltäglichen Sorgen hinter sich lassen? Das können ganz verschiedene Orte oder auch Zeiten sein. Vielleicht ist es für Sie eine stille Zeit am Morgen, die Sie sich gönnen. Oder ein Spaziergang in der Natur, Gespräche mit Freunden. Vielleicht ist es für Sie auch der Gottesdienst, den wir hier am Sonntagmorgen feiern. Für viele Menschen haben in diesem Zusammenhang die Berge eine ganz besondere Bedeutung. Schon im Alten Testament ist das so, bei Mose und Elia. Berge sind ein Ort, wo Menschen auch heute Gottes Größe und seine Nähe erfahren. Man tritt heraus aus den Niederungen des Alltags. All die Berge, die hier um uns herum sind, stehen dafür. Sie zeigen uns, dass immer wieder Menschen da waren, denen diese Berge etwas in Bezug auf ihren Glauben bedeutet haben: Menschen, die eine Kapelle gebaut haben in Wehingen auf dem Bürgle. Menschen, die in Gosheim das weiße Kreuz aufgestellt haben. An diesen schönen Orten, wo man ins Weite sieht, dort fühlt man sich Gott in besonderer Weise nahe. Dort hat man einen Überblick über die umliegende Gegend. Das hilft auch dabei, einen Überblick zu bekommen über sein eigenes Leben und sich zu besinnen auf Gott, dem wir unser Leben verdanken.

Ich denke an solche Gipfelerlebnisse bei Spaziergängen oder Wanderungen in den Bergen oder auch bei anderer Gelegenheit, wenn ich mir vorstelle, wie es Petrus und den anderen Jüngern in unserer Bibelgeschichte ging. Es ist eine sehr besondere Erfahrung, die diese drei Jünger gemacht haben – Petrus, Johannes und Jakobus. Sie haben Jesus oben auf dem Berg ganz anders erlebt, als sie sie ihn sonst kannten. Und das, obwohl Petrus schon vorher ein besonderes Erlebnis oder eine besondere Erkenntnis hatte mit Jesus. Petrus hatte erkannt: Jesus ist wirklich der Messias. Jesus ist Gottes Sohn. Petrus konnte seinen Glauben an Jesus bekennen, schon bevor er mit Jesus oben auf dem Berg war. Dort oben hat Petrus dann mit eigenen Augen gesehen: Jesus ist der Sohn Gottes! Jetzt ist sich Petrus ganz sicher, zusammen mit den anderen beiden Jüngern: Jesus wird bald seine Herrschaft sichtbar aufrichten, und wir, die Jünger, wir werden daran beteiligt sein! Endlich etwas Sichtbares und Erfahrbares! Endlich kommt Gott und ist uns ganz nahe! Endlich wird das Elend auf der Welt ein Ende haben! Jesus Christus erstrahlt in hellem Licht, und zusammen mit ihm noch die ganz Großen der Geschichte Israels, die ganz großen Männer des Glaubens: Mose und Elia, diese beiden, die Gott auch auf einem Berg erfahren durften.

Kein Wunder, dass Petrus diesen ganz besonderen Augenblick einfach festhalten möchte. Dieser großartige Glücksmoment soll für immer bleiben. „Herr, hier ist gut sein! Willst du, so will ich hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine.“ So sagt es Petrus. Ich denke, diese Reaktion ist völlig nachvollziehbar für jeden, der schon einmal einen echten Glücksmoment erlebt hat im Leben. In einem solchen Moment denken wir: So soll es bleiben! Aber Gott lässt sich nicht auf Dauer festhalten. Gott bleibt der ganz Andere, der Unbegreifliche. So geht es uns auch heute: Ob es Glücksmomente in unserem Leben sind oder Momente besonderer Gotteserfahrung – es bleiben immer nur Momente. Und doch sind diese Momente etwas ganz Wichtiges. Diese Gipfelerlebnisse geben unserem Glauben Halt, so dass er tragfähig bleibt in den Tiefen des Lebens. Ja, auch wenn wir von diesen Glücksmomenten wieder heruntersteigen müssen in die Tiefen und die Niederungen des Alltags – Gott ist bei uns und begleitet uns.

Gott ist bei uns und begleitet uns – auch, wenn das oft ganz anders aussieht, als wir es erwarten und uns wünschen. Elia hat das schon viel früher als Petrus auf einem Berggipfel erlebt, dass Gott ganz anders ist, als er es erwartet hat. Zu Elia kam Gott nicht im Sturm, auch nicht im Erdbeben oder im Feuer. Elia hat erfahren: Gott kommt ganz leise und sanft, ganz anders als erwartet. Und so erleben es auch Petrus und die beiden anderen Jünger mit Jesus auf dem Berg. Es läuft anders als erwartet. Petrus würde gerne Hütten bauen. Dass er das möchte, hat er noch gar nicht richtig ausgesprochen, da fällt ihm aus der Wolke eine Stimme ins Wort.  Wie ein Blitz aus heiterem Himmel trifft ihn dieses Wort von oben: „Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; hört auf ihn!“

Unsere Aufgabe ist nicht, Hütten zu bauen. Unsere Aufgabe ist nicht, sich einrichten in den Glücksmomenten. Unsere Aufgabe ist, weiterzugehen durch die Höhen und Tiefen des Lebens und dabei auf Jesus zu hören. Zu hören auch auf unbequeme Worte von Jesus, auf Worte wie diese, die Jesus auch auf einem Berg gesprochen hat: „Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ (Mt 5, 4ff) Hört auf Jesus! Den Jüngern fährt diese himmlische Stimme in die Glieder und ihnen zittern die Knie.  Wie geht es uns heute damit, mit diesen Worten aus der Bergpredigt, in einer Zeit, in der die Selbstverständlichkeit in Europa Frieden zu haben, weg ist seit jetzt fast einem Jahr. So lange dauert der Krieg in der Ukraine nun schon bald. Dieser Krieg macht uns ratlos – so ratlos, dass uns nur noch militärische Mittel einfallen, um ihn einzudämmen. Werden sie den Frieden bringen? Hört auf Jesus ,sagt uns die Bibel. Wir sind herausgefordert, das in unserer Zeit zu tun –  mitten im Elend und Unfrieden unserer Welt. 

Ja, immer wieder gibt es zum Glück auch Gipfelerlebnisse in unserem Leben und Glauben. Gipfelerlebnisse, die uns helfen, auch durch die schwierigen Zeiten hindurchgehen zu können. Ich denke dabei noch an einen anderen Berg – an den Hügel Golgatha. Auf Golgatha stirbt Jesus am Kreuz.  „Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; hört auf ihn!“ Gerade auch auf Golgatha gelten diese Worte.  Das göttliche Licht scheint überall – gerade auch an den verworrenen und dunklen Orten. Auch und gerade am Kreuz wird es greifbar, was Jesus in der Bergpredigt versprochen hat: Dass die Leidenden getröstet werden. Dass den Sanftmütigen das Erdreich gehört. Dass die Friedensstifter Gottes Kinder heißen. Es geht nicht immer alles einfach und glatt auf. Es gibt eben nicht nur die Gipfelerlebnisse, sondern auch die tiefen auch die dunklen Täler. Gerade auch jetzt in unserer Zeit, in der wir diesen furchtbaren Krieg in der Ukraine erleben müssen, gerade da wollen wir daran festhalten, dass Jesus Christus für uns da. Für die drei Jünger wird seine Herrlichkeit sichtbar auf dem Berg. Aber erst nach Kreuz und Auferstehung dürfen sie davon berichten. Denn gerade im Leiden am Kreuz wird Gottes Herrlichkeit sichtbar in Jesus Christus. Auf seinen Namen sind wir getauft.  Und er hat es uns versprochen, er wird bei uns sein. Nicht nur an den Höhepunkten unseres Lebens und bei den Gipfelerlebnissen unseres Glaubens, sondern an jedem Tag- alle Tage bis ans Ende der Welt.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

 

 

 

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2. Sonntag nach Epiphanias

Predigt zum 2. Sonntag nach Epiphanias, 15. Januar 2023

2. Mose 33, 18-23: Und Mose sprach zu Gott: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! Und Gott sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des Herrn vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Und der Herr sprach weiter:  Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.

Liebe Mitchristen!

„Gib mir nur ein kleines bisschen Sicherheit in einer Welt, in der nichts sicher scheint. Gib mir irgendwas, das bleibt.“ So heißt es in einem Lied von Silbermond.  Ich finde, dass dieses Lied gerade jetzt in unserer Zeit wieder aktuell ist. In einer Zeit, in der die alten Sicherheiten in Frage gestellt sind, die für uns Jahrzehnte lang selbstverständlich waren: Dass es keinen Krieg mehr gibt, oder höchstens ganz weit weg von uns. Dass wir uns keine Sorgen machen müssen, ob wir im Winter unsere Wohnung warm bekommen. Dass es im Sommer warm ist und im Winter kalt, ohne große Veränderungen, ohne Klimaveränderung. Dass die Erde bewohnbar bleibt. Alle diese Sicherheiten gibt es nicht mehr in unserer Zeit. Stattdessen sind wir unterwegs in eine Zukunft, die uns ungewisser scheint als je zuvor.

Mich erinnert das an die biblische Geschichte vom Volk Israel, das in der Wüste unterwegs war. Die alten Sicherheiten in Ägypten haben sie hinter sich gelassen, die sie als Sklaven dort gehabt haben_ Essen, Trinken, ein Dach über dem Kopf. Nun sind sie dem vagen Versprechen gefolgt, dass sie irgendwann einmal in ein gutes und fruchtbares Land kommen werden. Mose, ihr Anführer, hatte ihnen erzählt, dass ihnen Gott dieses Land versprochen hat: Ein Land, das von Milch und Honig fließt. Aber in den langen Jahren der Wüstenwanderung ist dieses Land nicht in Sicht gekommen – nur Hunger und Durst und diese unendliche, furchtbare Weite der eintönigen und lebensfeindlichen Wüstenlandschaft.

Kinder sagen ja immer bei einer langen Reise: „Wann sind wir endlich da?“ So wird es den Israeliten damals bei dieser Wüstenwanderung auch gegangen sein: Wann sind wir endlich da? Wo ist es denn nun, dieses Land, das Gott uns versprochen hat? Oder war das alles doch nur eine Fata Morgana, ein frommer Wunsch, eine billige Vertröstung? Wo ist Gott, der dieses Versprechen gemacht hat, dass alles gut wird in meinem Leben – auch wenn ich durch Wüstenzeiten gehe? Die Israeliten haben damals in der Wüste ihre eigene Antwort auf diese Frage gefunden. Sie haben sich einen Gott zum Anfassen gebaut: ein Stierbild aus Gold, ein goldenes Kalb. Sie sind um dieses Kalb herumgetanzt, um so ihren Gott anzubeten. Mose war nicht dabei. Er war auf dem Berg Sinai, um von Gott die Zehn Gebote zu empfangen. Als er herunterkam vom Berg, hat ihn die Wut gepackt über sein Volk.

„Gib mir nur ein kleines bisschen Sicherheit in einer Welt, in der nichts sicher scheint.“ Etwas, was ich sehen und anfassen kann. Dieser Wunsch steckte dahinter bei den Israeliten, als sie ihr goldenes Kalb gebaut haben. Aber Gott lässt sich nicht in so eine Form pressen. Ich kann Gott nicht für meine Zwecke gebrauchen. Da helfen keine goldenen Kälber, keine Beschwörungen und keine Zauberei. Denn Gott ist Gott, und ich bin nur ein Mensch. Wo ich in meinem Leben Gottes Hilfe erfahren darf, da habe ich das allein Gott zu verdanken und nicht mir selbst. Ich habe keinen Anspruch darauf. Gott ist und bleibt unverfügbar. Ich kann ihn nicht zwingen, mir zu helfen. Ich werde ihn nie ganz erfassen können mit meinem kleinen menschlichen Verstand. Es bleibt diese Anfechtung, dass ich mir Gott nicht vorstellen kann. Aber nur so bleibt Gott Gott. Dietrich Bonhoeffer hat das einmal so gesagt: „Einen Gott, den man sich vorstellen kann, den kann man auch wieder zur Seite stellen.“ So wie man ein selbstgebautes Bild von einem goldenen Kalb wieder zur Seite stellen kann.

Und doch gibt es Zeiten in unserem Leben, wo wir diese Unbegreiflichkeit Gottes einfach nicht mehr aushalten. Wo wir das brauchen, dieses kleine bisschen Sicherheit – irgendwas, das bleibt, was ich anfassen, was ich sehen und begreifen kann. Dem Volk Israel geht es so, als ihr Anführer Mose nicht mehr in Sicht ist oben auf dem Berg. Aber auch Mose selbst geht es so. „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ sagt er zu Gott. Mose will etwas sehen. Er will Gott irgendwie wahrnehmen können. Mose weiß, dass das eigentlich nicht geht. Das goldene Kalb macht er wieder kaputt, weil es Gott nicht darstellen kann.  Aber der Wunsch, Gott zu sehen, ist bei Mose trotzdem da.

Moses Wunsch, Gottes Angesicht zu sehen, kann Gott so nicht erfüllen. Gott sagt ihm: Du kannst mein Angesicht nicht sehen. Kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben. Gottes Herrlichkeit ist wie blendendes Licht, das alle Konturen und Formen überstrahlt. Kein Auge kann es sehen, ohne zu vergehen. Und doch geht Gott auf diesen Wunsch ein, den Mose hat. Gott will Mose etwas von seiner Herrlichkeit erfahrbar machen. So spricht Gott zu Mose: „Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun und du darfst hinter mir her sehen.“

Was wir von Gott sehen können, ist nicht sein Angesicht. Aber wir können hinter ihm her sehen. Im Rückblick können wir erkennen, was wir in unserem Leben Gottes Gnade zu verdanken haben. Was im Nachhinein doch einen Sinn ergibt, obwohl wir in der aktuellen Situation gedacht haben: Gott wo bist du? Warum hilfst du mir nicht? Warum stecke ich in dieser Klemme? Hinterher sehen, das bedeutet: Im Rückblick etwas vom Glanz Gottes in meinem Leben erkennen zu können: Gott war da. Gott hat mich auch durch diese Zeit hindurch getragen, als ich in der Klemme gesteckt bin.

In unserem Bibelwort wird beschrieben, das Mose in eine Felskluft gestellt wird. Diese Felskluft steht für mich zum Einen für dieses In-der-Klemme-Stecken. Manchmal geht es mir so, dass ich gerade in der Bedrängnis, wenn ich nicht aus noch ein weiß, etwas von Gottes Nähe spüre und erfahre– aber oft auch erst im Rückblick. Zum Anderen ist diese Felskluft für mich auch ein Zeichen für den Ort der Geborgenheit, den ich brauche: Einen Ort, wo ich geschützt bin vor dem, was ich sonst nicht ertragen kann. Gottes Angesicht sehen, das kann ein Mensch nicht ertragen. Aber auch Anderes gibt es im Leben, was ich nicht ertragen kann, wo ich einen Schutzraum brauche, einen Rückzugsort. Ein kleines bisschen Sicherheit in einer Welt, in der nichts sicher scheint. Irgendwas, das bleibt. In der Felskluft schafft Gott für Mose diesen Raum, so dass er nicht vergehen muss. Ein sicherer und geborgener Ort ist dieser Felsspalt, aus dem Mose im Rückblick sehen kann, wo Gott gewirkt hat in seinem Leben.

Wir alle brauchen solche Orte der Sicherheit. Orte, wo wir nachdenken können, was Gott bewirkt hat in unserem Leben. Auch der Gottesdienst am Sonntagmorgen kann so ein Ort sein. Ein Ort, wo ich zur Ruhe komme, wo ich in Sicherheit bin. Wo ich meine Sorgen ablegen darf und daran denke, was Gott Gutes getan hat in meinem Leben. Ein Ort, wo ich Gott begegnen kann.

Für uns als Christinnen und Christen ist es Jesus Christus, in dem uns Gott von Angesicht zu Angesicht begegnet. Jesus Christus, der uns durchs Leben begleitet, zu dem wir beten und auf den wir vertrauen können. In Jesus Christus können wir den göttlichen Glanz entdecken, gerade auch dann, wenn wir in der Klemme stecken. Denn Jesus Christus ist selber in der Klemme gesteckt. Sein Weg ans Kreuz schien eine Sackgasse zu sein, ein unwürdiges Ende für Jemanden, der so vielen Menschen Gott nahe gebracht hat. Aber für Gott war es nicht das Ende, war es keine Sackgasse. Gott hat seine Herrlichkeit offenbar werden lassen in Jesus Christus, der für uns gestorben und auferstanden ist.  Er gibt uns Sicherheit. Er ist das, was bleibt. An ihn können wir uns halten in allen Zeiten unseres Lebens –  in den sicheren und in den unsicheren.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

 

 

 

 

 

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1. Sonntag nach Epiphanias

 

 

Predigt zum 1. Sonntag nach Epiphanias, 8. Januar 2023

Joh 1, 29-34: Am nächsten Tag sieht Johannes, dass Jesus zu ihm kommt, und spricht: Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt! Dieser ist’s, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, der vor mir gewesen ist, denn er war eher als ich. Und ich kannte ihn nicht. Aber damit er offenbar werde für Israel, darum bin ich gekommen zu taufen mit Wasser.

Und Johannes bezeugte es und sprach: Ich sah, dass der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht. Aber der mich gesandt hat zu taufen mit Wasser, der sprach zu mir: Auf welchen du siehst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, der ist’s, der mit dem Heiligen Geist tauft. Und ich habe es gesehen und bezeugt: Dieser ist Gottes Sohn.

 

Liebe Mitchristen!

Gestern habe ich in meiner Wohnung die Weihnachtssachen weggeräumt. Jetzt ist alles wieder gut verstaut in einer Kiste auf dem Dachboden. Das Wohnzimmer sieht ein bisschen kahl aus ohne den Christbaum, und im Esszimmer hat mein Sohn die Weihnachtsdekoration vermisst, die wir auf dem Esstisch liegen hatten. Was bleibt von dem Glanz von Weihnachten? Was nehmen wir mit in dieses Jahr, das nun begonnen hat? Schwierig hat es begonnen, dieses Jahr. In der Ukraine haben die Waffen nicht geschwiegen während des orthodoxen Weihnachtsfestes. Was bleibt da von dem Glanz von Weihnachten, angesichts dieses brutalen Kriegs, angesichts von so viel Zerstörung, Not und Tod? Weihnachten haben sie trotzdem gefeiert in der Ukraine, jetzt am 7. Januar mit all dem Glanz, der zu einem orthodoxen Weihnachtsfest dazugehört. Ich denke an eine junge Frau, die in den Nachrichten interviewt wurde, dort in der Ukraine vor einer Kirche. Gerade in diesem Jahr war der Weihnachtsgottesdienst besonders wichtig für diese Frau, hat sie erzählt.

„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (1. Mose 16,13) Das ist die Jahreslosung für dieses Jahr. Dieses Bibelwort soll als Überschrift über diesem Jahr stehen. Ein Bibelwort, gesprochen von einer jungen Frau in Bedrängnis und Not. Auch die junge Frau, die ich in den Nachrichten gesehen habe, hat das offensichtlich so erleben dürfen in dem Weihnachtsgottesdienst, den sie in diesen Tagen in der Ukraine besucht hat: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Gott sieht uns. Er sieht das Elend in dieser Welt. Deswegen schickt er uns seinen Sohn- Jesus Christus, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt. Und immer wieder gibt es Zeugen dafür. Menschen, die diesen Gland von Weihnachten mitnehmen in ihr Leben, auch und gerade in dunklen Zeiten. Zeugen wie diese junge Frau aus der Ukraine. Zeugen wie Johannes der Täufer. Auch er hat etwas von Gottes Glanz gesehen. Vom Himmel herunter hat er ihn kommen sehen- leuchtend weiß wie eine Taube. So hat Johannes den Heiligen Geist auf Jesus herabkommen sehen: Gott kommt auf die Erde – Gottes Lamm, Jesus Christus.

Es gibt ein Bild, das diese Vision des Täufers auf das genaueste wiedergibt. Das Original hängt im Museum Unterlinden. Es stellt eine Kreuzigungsszene dar, wie sie in der christlichen Bildtradition häufig gemalt wurde. Und doch ist es einzigartig in seiner Darstellungsweise und es ist zu Recht weltberühmt. Es handelt sich um den Isenheimer Altar, gemalt in den Jahren 1512–1516 von Mathis Nithard, genannt Grünewald. Dieses Bild gibt es als Kopie auch bei uns in Wehingen. Hier in der evangelischen Kirchengemeinde hängt es normalerweise im Gemeindesaal über dem Klavier. Genau wie das Original ist ein dreiflügeliges Altarbild, nur kleiner. Auf der Rückseite findet sich eine Inschrift: „Geschenk des Holzgerlinger Posaunenchors der evangelischen Kirchengemeinde Wehingen als Altarbild für den Betsaal anlässlich des Besuchs des Holzgerlinger Posaunenchors in Wehingen am 19./ 20. Juli 1958 überreicht.“ 1958 war die evangelische Kirchengemeinde eine sehr kleine Gemeinde. Ihre Gottesdienste feierte sie in einem Betsaal. Und bei jedem dieser Gottesdienste hatten die Feiernden dieses Altarbild vor Augen:

Im Zentrum hängt überlebensgroß der Gekreuzigte vor einem dunklen Hintergrund. Links von ihm ist eine Figurengruppe zu sehen: die kniende Maria Magdalena, erkennbar am Salbgefäß, das neben ihr steht, rechts neben dem Kreuz Maria, die Mutter Jesu, die vom Jünger Johannes im Arm gehalten wird. Allen drei ist der Schmerz anzusehen, den sie empfinden.

Rechts vom Kreuz steht der Täufer. In der linken Hand hält er ein Buch; vermutlich ist es die Bibel. Natürlich ist das nicht historisch, denn zu Zeiten Jesu gab es die Bibel noch nicht. Es gab nur Schriftrollen mit den Büchern, die wir später das „Alte Testament“ nennen. Aber auch Johannes der Täufer selbst kann damals nicht wirklich unter dem Kreuz von Jesus gestanden sein. Zur Zeit der Kreuzigung war Johannes schon tot; ermordet durch Herodes. Wahrscheinlich hat der Maler des Bildes das auch gewusst. Aber es gibt Wahrheiten, die sind wichtiger als die Historie. Was an Johannes dem Täufer auf dem Bild besonders auffällt, das ist sein überlanger Zeigefinger. Mit diesem Zeigefinger deutet auf Jesus am Kreuz. Zu seinen Füßen sehen wir ein Lamm. „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt,“ sagt Johannes. Seine Haltung ist aufrecht. Anders als die Figurengruppe auf der linken Seite ist er nicht vom Schmerz niedergebeugt. Johannes weiß: So steht es in der Bibel. So muss es erfüllt werden.

Und so zeigt er auf Jesus am Kreuz. Es ist auffällig, wie der Gekreuzigte hier dargestellt wird. Seine langen spitzen Finger, die sich in seiner Dornenkrone zu wiederholen scheinen, sein nach links herabgesunkenem Kopf; alles an ihm scheint Schmerz zu sein. Das Jesus hier so schmerzverzerrt dargestellt wird, hat einen besonderen Grund: Der Altar, auf dem das Bild gemalt ist, stand ursprünglich in einem Hospital in Isenheim. Dieses Hospital war für Menschen gedacht, die an Mutterkorn erkrankt waren. Mutterkorn ist ein giftiger Pilz im Getreide, der im Mittelalter ein großes Problem war. Viele Menschen sind davon krank geworden. Nach und nach sterben Finger und Zehen ab, und meistens führte diese Erkrankung zum Tode.  Heilung gab es nicht.

Diese schwer kranken Menschen hatten bei ihren Gottesdiensten dieses Bild von Jesus am Kreuz vor sich. Die Gestalt des Gekreuzigten glich ihrer eigenen Gestalt. In seinem Leiden konnten sie sich wiederfinden. Jesus Christus – alles Leiden, alle Schuld und alles Elend der Welt hat er auf sich genommen am Kreuz. Das ist unser Trost auch heute. Das ist der Glanz von Weihnachten, den wir mitnehmen in dieses Jahr. Auch in schwierigen Zeiten können wir uns darauf verlassen: Jesus Christus lässt uns nicht allein. Auf seinen Namen sind wir getauft. In seinem Namen feiern wir miteinander das Abendmahl.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

 

 

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Predigt zum Altjahrsabend, 31. 12. 2022

Röm 8, 31b-39: Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? 

Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja mehr noch, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und für uns eintritt.

Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?  Wie geschrieben steht (Ps 44,23): »Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.«

Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

Liebe Mitchristen!

Wir blicken zurück auf das Jahr 2022, das weltweit betrachtet, für viele Menschen kein gutes Jahr war. Der Krieg in der Ukraine hat uns die Sicherheit genommen, dass wir mit unseren Nachbarländern in Nah und Fern in friedlichem Miteinander leben können. Waffen werden geliefert, Flüchtlinge müssen versorgt werden, und die Not der in der Ukraine verbliebenen Menschen gelindert. Alles wird teurer, und das Heizmaterial wird knapp. In den Apotheken und Kinderkrankenhäusern fehlen die Medikamente. Dinge, die für uns bisher selbstverständlich waren, wie die Versorgungssicherheit, haben ihre Selbstverständlichkeit verloren. Viele schauen der Zukunft mit Sorge entgegen. Zeitenwende, das ist das Wort, das in diesem Jahr geprägt wurde für dieses neue Lebensgefühl. Zeitenwende. Die letzten Stunden und Minuten des alten Jahres werden heruntergezählt. Ein neues Jahr bricht an. Was wird es uns bringen in diesen unsicheren Zeiten? Können wir mit Zuversicht in dieses neue Jahr gehen, oder doch nur mit Sorge?

„Fürchte dich nicht,“ sagt uns Gott. Wir sollen wissen und darauf vertrauen: Was auch immer war, was auch immer kommen wird: Unser Gott hält zu uns. In ihm sind wir geborgen, unser Leben lang und darüber hinaus! Unser heutiger Predigttext aus dem Römerbrief will uns dieses Vertrauen tief in unsere Herzen pflanzen. 

Nichts kann uns von Gottes Liebe trennen, sagt uns der Apostel Paulus. Und er nennt uns einen Grund dafür: Jesus Christus. Mit ihm ist die Zeitenwende angebrochen – nicht eine Zeitenwende hin zu schwierigeren Zeiten, so wie wir das in diesen Tagen immer wieder hören, sondern die Zeitenwende hin zum guten Leben. Denn alles, was uns von Gott trennt, hat Jesus Christus ein für alle Mal beseitigt. Der Damm ist gebrochen. Gottes Liebe fließt in unser Leben. So hat es der Apostel Paulus erfahren in seinem Leben. Und so singt er sein Loblied auf Gottes Liebe: 

Gottes Liebe ist so groß, dass Gott seinen eigenen Sohn für uns dahingegeben hat. Nichts kann uns von Gottes Liebe trennen. Gott vergibt uns unsere Sünden durch Jesus Christus, der für uns gestorben ist. Nichts kann uns von Gottes Liebe trennen. Jesus Christus hat den Tod überwunden und tritt bei Gott für uns ein. Nichts kann uns von Gottes Liebe trennen. Das ist die Zeitenwende, die wir in allen unseren christlichen Festen feiern: Jesus Christus ist da!

Paulus hat an alles gedacht: Gott hat seinen Sohn nicht verschont, er hat ihn in die Welt gesandt. Das feiern wir jetzt in der Weihnachtszeit. Gott hat seinen Sohn für uns dahingegeben. Jesus Christus ist gestorben. Das ist Karfreitag. Gott hat Jesus Christus auferweckt von den Toten. Das ist Ostern. Jesus Christus sitzt zur Rechten Gottes und tritt für uns ein. Das feiern wir an Himmelfahrt. Alle unsere Christusfeste sind abgedeckt mit diesen Worten des Paulus – angefangen vom Weihnachtsfest, von dem wir gerade herkommen bis hin zum Himmelfahrtstag. Paulus hat nichts vergessen. Nichts kann uns von Gottes Liebe trennen. 

Aber ist das wirklich eine Zeitenwende? Schau doch mal aus dem Fenster, Paulus! Oder höre die Nachrichten, was alles Furchtbares in der Welt passiert! Krieg ohne Ende, Armut und Not. Menschen sterben, sind auf der Flucht oder am Verzweifeln. Was sagst du dazu, Paulus? Paulus sagt: Ja, das sehe ich. Das kenne ich sogar aus eigener Erfahrung: Niedergeschlagenheit und Angst, Verfolgung, Hunger und Mittellosigkeit, Gefahr und Gewalt. 

Was hat das vergangene Jahr gebracht? Weltweit hat es viel Schweres gebracht. Wie war es für Sie, in Ihrem persönlichen Leben? War es ein gutes und schönes Jahr, oder ein schwieriges und schweres Jahr? Für einige, die heute abend hierher gekommen sind, wird das vergangene Jahr auch schwere Erfahrungen mit sich gebracht haben, Erfahrungen, die einen an Gott verzweifeln lassen könnten. 

Erfahrungen, vor denen menschliche Worte verstummen, weil sie doch nur billiger Trost wären. Auch Paulus kennt solche abgrundtiefen Erfahrungen, die ihn verstummen lassen. Die eigenen Worte tragen nicht mehr. Deshalb leiht sich Paulus andere Worte, die Worte eines alten Klagepsalms: „Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe“. Da ist nichts zu spüren von Gottes Liebe, in solch schwerer Erfahrung. 

Trotzdem bleibt Paulus dabei: Nichts kann uns von Gottes Liebe trennen. Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur. Nichts, aber auch gar nichts kann uns von Gottes Liebe trennen. Nichts von all dem, was das vergangene Jahr gebracht hat, weder das Schöne noch das Schwere. Nichts von all dem, was das neue Jahr bringen wird. „Aber in all dem überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat.“ So sagt es Paulus. Denn Gottes Liebe ist zu uns gekommen. Gott ist Mensch geworden. Jesus Christus ist hier, der uns vor Gott vertritt. Gott ist für uns. Das betont Paulus immer und immer wieder. Es ist eine Aussage, die unerschütterlich und fest steht wie ein Fels in der Brandung. Gott will, dass wir froh und frei, vertrauensvoll und hoffnungsvoll in das neue Jahr gehen. Es will ein Anno Domini werden, ein Jahr des Herrn. Denn unser Herr Jesus Christus hat die Zeitenwende eingeläutet, die Zeitenwende hin zum guten Leben. Gottes Liebe, die er uns in Jesus Christus schenkt, diese Liebe wird uns begleiten und bewahren, auch im neuen Jahr. Amen.

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Heiligabend, Predigt zu Lukas 2, 1-20

Liebe Mitchristen!

Das Weihnachtsfest ist etwas Großartiges, auf das wir viel Zeit und Mühe verwenden. Besonders die Kinder freuen sich schon seit Wochen auf dieses Fest, und zählen am Adventskalender die Tage bis Weihnachten.  Heute endlich ist es soweit, dass wir wieder miteinander unter dem Christbaum sitzen, dass wir uns an den Geschenken freuen und die schönen Weihnachtslieder singen! 

Ja, es mag sein, dass in diesem Jahr das eine oder andere Geschenk kleiner ausgefallen ist als sonst. Ja, es mag sein, dass in diesem Jahr die eine oder andere Lichterkette dunkel bleibt, die sonst im Vorgarten für hellen Weihnachtsglanz gesorgt hat. Die dunklen Ecken in unserem Vorgarten erinnern uns daran: Die Dunkelheiten unserer Welt sind nicht mit einem Schlag weggewischt an Weihnachten. Krieg und Inflation, Kälte und Not – das alles hört da nicht einfach auf. Aber in dieser Heiligen Nacht hören wir die Botschaft: Gott lässt uns nicht allein in unseren Dunkelheiten. Gott kommt zu uns auf die Erde. Als kleines Kind wird er geboren, ein Mensch wie wir. Das ist das Besondere der Weihnachtsgeschichte. Jedes Jahr hören wir diese Geschichte wieder neu. 

Als erster kommt in dieser Geschichte der mächtige Kaiser Augustus vor. Er lässt jeden zur Volkszählung in seiner Heimatstadt antreten. Sein kaiserlicher Befehl erlaubt keine Ausnahmen.  Also muss eben auch die hochschwangere Maria mit Joseph, ihrem Verlobten, nach Bethlehem, so schwer ihr die Reise auch fallen mag. In den Unterkünften dort ist nirgends Platz für die beiden. Und so wird ein Futtertrog zum Notbettchen für den neugeborenen Sohn. Eine sehr nüchterne Beschreibung einer Notlage ist diese Geschichte zunächst einmal. Von Gott ist da noch gar nicht die Rede. 

Der Kaiser ist es, der hier die Geschicke der Menschen lenkt. Alles muss seine Ordnung haben. Soziale Härtefälle werden nicht berücksichtigt. Wer am unteren Rand der Gesellschaft lebt, das interessiert ihn nicht. Die Menschen sollen aufsehen zu ihm, dem Kaiser, und ihm gehorchen. Wie ein Gott lässt sich Augustus verehren von seinen Untertanen. Was ist geblieben von diesem größenwahnsinnigen Kaiser? Was bleibt von den Tyrannen, die ihre Macht rücksichtslos ausnutzen? Die Kriege anzetteln und sich als Helden feiern lassen? Vom Kaiser Augustus ist nicht viel geblieben.  Wir kennen ihn vielleicht noch aus dem Geschichtsunterricht. Vor allem aber kennen wir ihn aus der Weihnachtsgeschichte. Das heißt: Nicht, weil er ein mächtiger Herrscher war, kennen wir heute noch diesen römischen Kaiser Augustus, sondern weil im entlegensten Winkel seines Weltreiches unter katastrophalen Bedingungen ein Kind geboren ist. Dieses unscheinbare Kind ist es, das die Welt verändert hat, nicht der scheinbar so mächtige Kaiser. Denn in diesem unscheinbaren und armen Kind kommt Gott selbst auf die Welt: Jesus Christus, Gottes Sohn. Jesus Christus, Gottes Sohn – er wird nicht in den Palästen dieser Welt geboren, nicht in der Luxussuite im Fünfsternehotel, sondern unter ärmsten Bedingungen in einer Notunterkunft ohne medizinische Versorgung. 

Was wäre, wenn Jesus nicht im armseligen Stall geboren wäre, sondern im besten Hotel am Ort? Er hätte es verdient als Sohn Gottes, ganz sicher. Er hätte die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf seiner Seite gehabt. Ein paar Tage lang wären die Nachrichten voll gewesen mit dieser Meldung: Sohn Gottes in Bethlehem geboren. Und dann? Dann hätte das Interesse wieder abgenommen. Jesus wäre eine Berühmtheit unter vielen gewesen, und nach 2000 Jahren hätte sich längst niemand mehr für ihn interessiert. Aber so war es nicht, so wollte Gott nicht in die Welt kommen. Sein Sohn sollte kein zweiter Kaiser Augustus werden, der sich nur an seiner Macht und seinem Reichtum freut – aber die Not der Menschen in seinem Reich hat er nicht im Blick. Nicht bei den Menschen, die sowieso im grellen Rampenlicht stehen, sollte Gottes Sohn geboren werden. Er kommt in die Dunkelheit, zu den Ärmsten der Armen. Die ersten, die von der Geburt des Gottessohnes erfahren, sind Menschen, die die Nacht auf freiem Feld verbringen müssen – die Hirten. Die Hirten standen am Rande der Gesellschaft. Niemand wollte mit ihnen etwas zu tun haben. Sie galten als unehrliche Schafdiebe. 

Diese Hirten holt Gott aus der Dunkelheit ihres armseligen Daseins. Sie sehen ihr Leben nun in einem neuen Licht. „Die Klarheit des Herrn leuchtete um sie.“ Wie aus einer anderen Welt hören sie die Worte des Engels: „Euch ist heute der Heiland geboren.“ Der Heiland. Der Gott, der dich heil macht. Der Gott, der Zerbrochenes heilt und neues Leben schenkt – für uns alle. Und mit den Worten des Engels sickert die Klarheit des Herrn den Hirten ins Herz. Als der Gottesbote ausgeredet hat und der Lobgesang der himmlischen Heerscharen verklungen ist, da sind die Hirten ganz klar geworden. Sie haben Klarheit über sich. Sie fürchten sich nicht mehr. Sie lassen sich von Gott beschenken. Sie sehen klar den nächsten Schritt, der zu tun ist. Noch sind sie nicht am Ziel. Noch sind sie nicht bei der Krippe. Sie haben noch einen Weg vor sich: „Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.“ 

Wie die Hirten machen auch wir uns heute wieder auf den Weg zum Stall von Bethlehem. Wir machen uns auf den Weg mit allem, was uns beschäftigt, mit Freud und Leid. Die Dunkelheiten und Ungereimtheiten unseres Lebens sind auch heute nicht weggewischt. Auch heute wird die Freude nicht überall ungetrübt sein. Aber von Bethlehem her scheint jetzt ein Licht in alle Dunkelheit der Welt, auch in unser Leben: Das Licht der Klarheit des Herrn. Das Licht der Engelsbotschaft: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

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Ewigkeitssonntag

 

Predigt zum Ewigkeitssonntag, 20. November 2022

 

Jesus entgegnete: »Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nicht mehr hungern. Und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben. Aber ich habe es euch ja schon gesagt: Obwohl ihr meine Taten gesehen habt, schenkt ihr mir keinen Glauben. Alle, die mein Vater mir anvertraut, werden zu mir kommen. Und wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen. Denn dazu bin ich vom Himmel herabgekommen: Nicht um zu tun, was ich selbst will, sondern was der will, der mich beauftragt hat. Und das ist der Wille dessen, der mich beauftragt hat: Ich soll keinen von denen verlieren, die er mir anvertraut hat. Vielmehr soll ich sie alle am letzten Tag vom Tod erwecken. Denn das ist der Wille meines Vaters: Alle, die den Sohn sehen und an ihn glauben, werden das ewige Leben erhalten. Am letzten Tag werde ich sie vom Tod erwecken.«

 

Liebe Mitchristen!

Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Dieses Wort von Jesus Christus haben wir gerade im Predigttext gehört. Ein Bibelwort, das uns durch dieses Jahr begleiten will. Es ist die Jahreslosung für 2022. Das Jahr ist nun bald zu Ende. Viel ist passiert. Wie haben Sie dieses Jahr erlebt? Ein Jahr, in dem Sie Abschied nehmen mussten von einem geliebten Menschen. Ich denke an eine Frau, die ihren Mann verloren hat. „Ich kann es nicht mehr hören,“ so hat diese Frau erzählt. „Alle meinen zu wissen, wie ich mich jetzt verhalten soll. Ich kann die vielen guten Ratschläge einfach nicht mehr hören: Dass ich unter Leute soll, dass ich bestimmt wieder einen Partner finde, und was sie noch alles sagen. Und wenn sie es nicht sagen, denn sehe ich ihnen schon an, was sie denken. Aber ich vermisse ihn einfach weiter. Am meisten vermisse ich, seine Stimme zu hören. Es ist so still geworden hier im Haus. Und so still in mir.“

Vielleicht kennen Sie das. Vielleicht ist es auch bei Ihnen still geworden mitten im Leben. Heute sind wir hier, um an die Toten zu denken, die im vergangenen Jahr gestorben sind. Das Leben ist voller Spuren des Vergangenen. Im Wohnzimmer bleibt ein Sessel bleibt leer. Im Garten ist keine Bewegung. Die Abende sind länger und einsamer. Trauriges Vermissen hat viele Arten sich auszudrücken. Die Sehnsucht nach der Stimme des Menschen, der ging, ist eine davon.

Jesus Christus ist keiner von denen, der uns gute Ratschläge geben will in der Trauer. Aber er spricht zu uns. Gerade auch dann, wenn es still geworden ist in unserem Leben. Gerade auch dann, wenn uns selber die Worte fehlen. Er verspricht es uns: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nicht mehr hungern. Und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben. Alle, die den Sohn sehen und an ihn glauben, werden das ewige Leben erhalten.“

Das sind Worte von jemanden, der sich auskennt mit dem Tod und was danach kommt. Es sind Worte von Jesus Christus, der den Tod durchlitten und überwunden hat. Nicht alles können wir fassen, ja manches erscheint uns vielleicht sogar seltsam oder widerstrebt uns. Steile Worte sind das, und doch voller Hoffnung: „Am letzten Tag werde ich sie vom Tod auferwecken.“ Die Zeit wird kommen, in der etwas Neues eintritt. Der Augenblick wird kommen, in dem etwas Gewaltiges geschieht. Dann werden die Dinge danach nicht mehr so sein wie sie vorher waren.

Leben über den Tod hinaus in Ewigkeit, das verspricht uns Jesus Christus. Der Theologe Siegfried Kettling erklärt das in seinem Buch „Du gibst mich nicht dem Tode preis“, das er dem Gedenken an seinen tödlich verunglückten Sohn Mattias gewidmet hat. Dort schreibt er: „’Ewigkeit‘ meint im biblischen Denken (…) nicht ‚Zeitlosigkeit‘, nicht das Gegenteil von Zeit. ‚Ewigkeit‘ meint auch nicht ‚unendlich viel Zeit‘, nicht die Summe aller Zeiten. (…) Ewigkeit ist ein Würdeprädikat, das allein Gott gebührt. Ewiges Leben ist Teilhabe an Gottes Lebendigkeit. Gott gibt uns Anteil an sich selbst. (…) Ewigkeit heißt: ‚Wir werden bei dem Herrn sein.‘ Das ist genug.“ So weit Siegfried Kettling.

Ich denke noch einmal an unsere Jahreslosung für 2022, an dieses Wort von Jesus Christus: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Heute am Ewigkeitssonntag höre ich dieses Bibelwort anders als am Anfang des Jahres. Ich denke daran: Dieses Versprechen von Jesus Christus gilt nicht nur in diesem Leben. Dieses große Versprechen gilt weiter. Es gilt auch, wenn unser Leben in dieser Welt zu Ende geht und wir über die Schwelle des Todes gehen. Was erwartet mich hinter dieser Schwelle? Das kann ich nicht wissen. Kein lebender Mensch kann das. Aber auf dem Weg in diese unbekannten Räume hilft mir dieses Wort von Jesus Christus: „„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Mit diesem Spruch weiß ich: Ich bin nicht allein unterwegs auf meinem Weg. Hier in diesem Leben bin ich nicht allein, und auch nicht, wenn ich über die Schwelle des Todes gehe. Hinter der Schwelle des Todes erwartet mich Jesus Christus und sagt: Sei willkommen. Hier in unserer Christuskirche haben wir ein Bild dazu aufgehängt, ein Bild zur Jahreslosung. Eine geöffnete Tür ist auf diesem Bild zu sehen, und ein goldener Schlüssel, der von oben kommt. Jesus Christus schließt uns die Tür auf zum neuen Leben, zu seiner Ewigkeit. Was erwartet uns dort in der Ewigkeit, wenn wir die Türschwelle überschritten haben? Auf diesem Bild ist es ein helles, warmes Licht. Und ein gedeckter Tisch, der für uns bereit ist. Brot und Wein stehen da, als Zeichen für Jesus Christus, der am Kreuz sein Leben für uns gegeben hat. All die alten Geschichten, die mich belasten, meine Schuld und mein Versagen, das alles darf ich bei ihm ablegen. Die Tür steht offen für mich. Ich darf kommen, so wie ich bin. Der Tisch ist gedeckt für mich. Ich darf mich einladen lassen. Und ich darf sicher sein. Jesus schickt mich nicht weg. Wir alle sind willkommen bei ihm, wir Lebenden und auch unsere Verstorbenen. In diesem Vertrauen können wir auch in dieser Welt weiterleben. Trotz der schmerzlichen Lücke, die der geliebte Mensch an unserer Seite hinterlassen hat. Jesus Christus gibt auch uns, was wir zum Leben brauchen: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nicht mehr hungern. Und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben.“

Wenn ich darauf vertrauen kann, dann verändert sich etwas in meinem Leben. Denn wer auf Jesus Christus hört, der ist befreit zum ewigen Leben. Dann fängt das ewiges Leben schon im Hier und Jetzt an. Gerade auch bei Trauernden erlebe ich das immer wieder. Ich denke an die trauernde Frau, die ich anfangs erwähnt habe. Einmal kam ihr Nachbarn mit Pflanzen aus seinem Garten zu Besuch. Für ihn waren die Pflanzen ein Zeichen von Gottes Liebe und Güte.  Das hat dieser Frau Mut gemacht, dass dieser Nachbar für sie an Gottes Schöpfungsmacht glaubte und sie daran teilhaben ließ. Und so konnte sie langsam, Schritt für Schritt, wieder Fuß fassen ihn ihrem Leben. Sie konnte das Leben wieder lieben lernen.

Gott eröffnet uns neue Wege. Gerade in der Zeit der Trauer will er für uns da sein mit seinem Wort. So können wir neuen Mut schöpfen für den Weg, der noch vor uns Lebenden liegt. Die Toten, die können wir getrost Gott anvertrauen. Wir müssen uns um sie weniger sorgen heute. Denn Jesus Christus hat es uns versprochen: „Am letzten Tag werde ich sie vom Tod erwecken.“ So wird es geschehen. Amen.

EG 361, 1+8+12 Befiehl du deine Wege

Pfrin. D. Kommer

 

 

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Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr

 

Predigt vom Sonntag, 13. November 2022

Liebe Mitchristen!

In der vergangenen Woche war ich mit den anderen Pfarrerinnen und Pfarrern unseres Tuttlinger Kirchenbezirks unterwegs. Alle zwei Jahre machen wir eine solche Fahrt. Dieses Mal ging die Reise nach Rom. Was mich in Rom besonders beeindruckt hat, war die Sixtinische Kapelle. Michelangelo hat diese Kapelle ausgemalt: An der Decke die Schöpfungsgeschichte mit dem berühmten Bild von der Erschaffung Adams, und an der Stirnwand das Jüngste Gericht. An diesem Gemälde vom Jüngsten Gericht ist mein Blick länger hängen geblieben als an den Deckengemälden. Ich denke, das war nicht nur deswegen so, weil man dieses Bild bequemer anschauen kann, ohne dass man Genickstarre bekommt. Woran ist mein Blick hängen geblieben bei diesem Bild vom Jüngsten Gericht? Es waren nicht die Engel mit ihren Posaunen, auch nicht die Menschen, die aus ihren Gräbern aufstehen. Es war auch nicht die große Schar der Apostel und Glaubenszeugen. Nein, mein Blick ist hängen geblieben an Jesus Christus, den Michelangelo in die Mitte dieses Gemäldes gemalt hat: Jesus Christus als Weltenrichter. Bei Michelangelo steht er auf einer Wolke. An seinen Füßen sieht man die Wunden, wo sie die Nägel durchgeschlagen haben, als sie ihn gekreuzigt haben. Seitlich an der Brust sieht man den Lanzenstich der Soldaten. Neben Jesus ist Maria. Das alles ist vertraut. Das kenne ich auch von anderen Bildern, auf denen Jesus Christus dargestellt ist. Und doch bleibt mir dieser Christus seltsam fremd mit seinen dynamischen Handbewegungen und seinem jugendlichen Gesicht: Das soll Jesus Christus als Weltenrichter sein? Ich hatte da sonst immer einen gestrengen Christus mit Bart vor Augen, der auf seinem Thron in den Wolken sitzt.

Wie stellen wir uns Jesus Christus, wie stellen wir uns Gott als Richter vor? „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi,“ heißt es in 2. Kor 5,10. Gott als Richter- Jesus Christus selbst hat dazu eine Geschichte erzählt in Lukas 18, 2-8:

»In einer Stadt lebte ein Richter. Der hatte keine Achtung vor Gott und nahm auf keinen Menschen Rücksicht. In der gleichen Stadt wohnte auch eine Witwe. Die kam immer wieder zu ihm und sagte: ›Verhilf mir zu meinem Recht gegenüber meinem Gegner.‹ Lange Zeit wollte sich der Richter nicht darum kümmern. Doch dann sagte er sich: ›Ich habe zwar keine Achtung vor Gott und ich nehme auf keinen Menschen Rücksicht. Aber diese Witwe ist mir lästig. Deshalb will ich ihr zu ihrem Recht verhelfen. Sonst verpasst sie mir am Ende noch einen Schlag ins Gesicht.‹« Und Jesus sagt weiter: »Hört genau hin, was der ungerechte Richter hier sagt! Wird Gott dann nicht umso mehr denen zu ihrem Recht verhelfen, die er erwählt hat –und die Tag und Nacht zu ihm rufen? Wird er sie etwa lange warten lassen? Das sage ich euch: Er wird ihnen schon bald zu ihrem Recht verhelfen! Aber wenn der Menschensohn kommt, wird er so einen Glauben auf der Erde finden?«

Was für eine Geschichte, und was für ein Richter! Ich frage mich, wie man so einen schlechten Richter mit Gott vergleichen kann. Dieser Richter ist rücksichtslos, faul und korrupt. Ja, wenn man ihm Bestechungsgeschenke macht, dann kommt man bei ihm sicherlich schnell zum Ziel. Aber die Witwe in der Geschichte ist arm. Sie hat nichts, was die dem Richter geben könnte. Sie hat nur ihre Stimme. Und mit der wird sie laut, immer wieder. Es ist nicht unverschämt oder unverfroren, dass sie das macht. Sie ist auch keine bittende Witwe, wie wir in manchen Bibelüberschriften lesen. Diese Witwe fordert nur das Recht ein, das ihr zusteht. Sie will einfach nur Gerechtigkeit. Endlich Ruhe von ihrem Gegner, der sie unter Druck setzt und ihr das Leben so schwer, ja beinahe unmöglich macht. So, wie es ist, kann es nicht weitergehen für diese Frau. Sie braucht Hilfe. Und der Einzige, der ihr helfen kann, ist nun mal dieser schlechte Richter. Also kommt sie immer und immer wieder und trägt ihm ihr Anliegen vor. Ich bewundere diese Frau – ihre Geduld und Beharrlichkeit. Ich bewundere an ihr, dass sie nicht aufgibt, auch wenn es aussichtslos scheint. Und tatsächlich: Irgendwann ist der Richter so genervt von dieser Witwe, dass er ihr schließlich doch zu ihrem Recht verhilft.

Ist dieser Richter ein Bild für Gott? So ist Gott doch gar nicht! Gott hört doch die Schreie der Unterdrückten und Gequälten. Gott lässt diese Menschen doch nicht allein in ihrer Not. Ich muss nachdenken über diese Geschichte. Und ich denke auch an das viele und große Elend, dass es auf der Welt gibt. Ich denke an die vielen Menschen, die keine Hilfe bekommen. Manche haben lange darum gebetet. Aber ihre Not ist nicht weniger geworden deswegen. Was sollen wir dann tun, wenn es uns so geht, fragen die Jünger Jesus. Weiterbeten, sagt Jesus. Gott hat euch nicht vergessen. Bald wird es anders werden. Bald wird Gott für Gerechtigkeit sorgen – wenn der Menschensohn wiederkommt auf die Erde. Und bis dahin sollt ihr denen zur Seite stehen, die schwach sind und in Not geraten.

Ja, das ist unsere Aufgabe als Christinnen und Christen: An der Seite der Witwe zu stehen, die unbeirrt an die Ordnungen glaubt, die mutig ist im Widerstand und lautstark in ihren Forderungen. An der Seite der Witwe sollen wir stehen, die ihr Recht einfordert, und die Recht bekommen wird. Und ich denke, genau das ist es, was Lukas meint, wenn er vom Beten schreibt. Beten, das bedeutet: Das Unrecht erkennen und benennen. Sich nicht damit abfinden. Der Welt und Gott mutig entgegentreten. Beten, das bedeutet: Auf das Recht pochen, das uns zusteht – als Bewohnerinnen und Bewohner der Welt und des Reiches Gottes. Beten, das bedeutet: Gott beim Wort zu nehmen und bei seinen Zusagen; vertrauensvoll und hartnäckig, fordernd und fördernd. Denn eines Tages werden wir es erleben. Dann wird alles vollendet sein. Dann wird es Recht und Gerechtigkeit geben für alle, die Unrecht erleiden. Dann wird es einen gerechten Richter geben für die Lebenden und die Toten. Jesus Christus wird dieser Richter sein. Und vielleicht hat Michelangelo ja Recht damit, dass er sich da keinen strengen Mann mit Bart auf einem Thron vorstellt, wenn er an Christus als Weltenrichter denkt. Jesus Christus der Weltenrichter ist dann keine furchterregende Gestalt. Er ist in Bewegung. Er geht auf die Menschen zu. Er hört und versteht. Auf sein Recht und seine Gerechtigkeit können wir vertrauen, auch wenn wir es jetzt noch nicht in Vollendung sehen.

Ihre Pfarrerin Dr. Dorothee Kommer

 

 

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Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr

 

Liebe Gemeinde,

es ist November geworden. Die letzten Blätter an den Bäumen fallen. An die Stelle des leuchtenden Rots und Gelbs des Oktobers tritt das Grau des Novembers. Die Natur zeigt uns ihre Vergänglichkeit. Sie erinnert uns an unsere Zerbrechlichkeit und Endlichkeit. Wir gehen auf den Friedhof, richten die Gräber unserer Angehörigen und denken an die Verstorbenen. Wie es wohl ist, dort in Gottes Reich?

Manchmal sehnen wir uns danach, etwas von dem zu sehen, was für unsere Augen (noch) nicht sichtbar ist. Besonders in Krisenzeiten sehnen wir uns danach, dass es da noch mehr gibt als dieses Hier und Jetzt. Wir fragen: Wo ist Gott? Wo spüren wir etwas von seinem verheißenen Reich?

Wir hoffen angesichts des Kriegs in der Ukraine, angesichts von Terror, Ungerechtigkeit, Hunger und Menschen, die in unvorstellbarer Armut leben, dass Gott mit den Prophezeiungen wahr macht, dass Güte und Treue einander begegnen und Gerechtigkeit und Friede sich küssen werden.

Wir hoffen auf eine Welt, in der Schwerter zu Pflugscharen gemacht werden und kein Volk mehr gegen das andere das Schwert erheben wird.  

Wir sehnen uns nach einer Welt, in der Gott alle Tränen abwischen wird und der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz mehr sein werden, weil Gott alles neu macht.

Wann kommt das Reich Gottes? fragen die Pharisäer Jesus. Auch sie sehnen sich danach, dass ihre Welt neu werde. Sie sehen täglich Armut und Leid. Sie sehen Männer, die Tagelöhner wurden, weil sie die Pacht und Steuern für ihr Land nicht mehr zahlen konnten.

Sie sehen Frauen, die am Straßenrand um Brot für ihre Kinder betteln oder sich prostituieren, um überleben zu können. Sie sehen Kranke, die sich keinen Arzt oder Medizin leisten können.

Sie sehen Menschen, die sich einen Beistand wünschen, wenn sie von den Mächtigen und Reichen ungerecht behandelt werden.

»Wann kommt das Reich Gottes?«, fragen sie Jesus.

Hoffen sie auf ihn? Hoffen sie, dass Jesus das Reich Gottes bringen wird? Ist er der erwartete Messias? Wird er die Römer durch die Macht Gottes aus dem Land jagen? Wird er Gerechtigkeit, Frieden und Mitmenschlichkeit schaffen?

»Wann kommt das Reich Gottes?«, fragen sie Jesus.

Hören Sie den Predigttext für den heutigen drittletzten Sonntag des Kirchenjahres aus Lukas 17, 20–30.

Wann kommt das Reich Gottes? Wann kommt die Zeit, in der Gott das Sagen hat und nicht die Reichen und Mächtigen dieser Welt? Wann kommt die Zeit, in der alle nach der Thora und den Geboten Gottes leben? Wann werden sie ernsthaft befolgt?

Der Frage nach dem »Wann« weicht Jesus aus. Niemand weiß die Stunde. Er weiß, dass manche denken: Was wir heute sehen und erleben, sind doch eindeutige Zeichen dafür, dass es kurz bevorsteht! Jesus sagt: »Nein, es gibt keine äußeren Zeichen. Keiner kann sagen: Da oder dort ist es. Keiner kann ausrechnen, wann die Welt der Willkür untergeht.«

Stattdessen sagt er, wo es ist: »Seht, das Reich Gottes ist mitten unter euch.«

Ich stelle mir vor, wie die Pharisäer den Kopf schütteln.

Mitten unter uns? Das wüssten wir! Dann sähe doch unsere Welt ganz anders aus. Erlöster, befreiter, glücklicher könnten wir leben. Sie drehen sich enttäuscht um. Andere unter ihnen sehen Jesus fragend an, denken nach, nicken: Sie haben davon gehört, dass Jesus gerade erst zehn Aussätzige geheilt hatte. Die Aussätzigen vegetierten auf ihren Tod zu. Es gab keine Medizin, die sie hätte heilen können. Sie waren ausgegrenzt, isoliert, hatten keinen Kontakt zu ihren Familien. Sie hatten keine Hoffnung auf Besserung – auf Zukunft und Leben. Und nun hatte dieser Jesus sie geheilt. Ja, nicken sie,

ihnen wurde das Leben neu geschenkt. Und einer von ihnen, der hat erkannt, welch großes Wunder an ihm geschehen ist und lobte Gott mit lauter Stimme. Ihm war es, als ob der Himmel auf die Erde und mitten in sein Leben kommt – Gottes Reich mitten unter den Todgeweihten.

»Seht, das Reich Gottes ist mitten unter euch.« Ich vermute, dass die Jünger innerlich zustimmten, als sie Jesus so reden hörten. In dem, was Jesus tat und sagte, ist für sie Gottes Reich schon angebrochen. Durch Jesus haben sie die Liebe Gottes erfahren. Sie erlebten einen Gott, der sie alle annimmt, so wie sie sind – mit ihren Macken, ihrer Schuld und Unvollkommenheit. Ja, mit Jesus ist das Reich Gottes zu ihnen gekommen. Das haben sie erlebt.

Er wird wiederkommen zu richten die Lebenden und die Toten – so haben wir es im Glaubensbekenntnis eben gesagt.

Doch was sagt Jesus jetzt zu ihnen? Es wird die Zeit kommen, da werdet ihr euch danach sehnen, den Menschensohn zu sehen – aber ihr werdet ihn nicht sehen können. Diese Zeit müsst ihr aushalten. Fallt nicht rein auf falsche Propheten.

Und seid bereit, wenn der Menschensohn kommen wird.

Wie ein Blitz, der aufblitzt und quer über den ganzen Himmel leuchtet, wird er kommen.

Wie ein Blitz: Unübersehbar und kraftvoll wird er diese Welt verwandeln, so wie damals, als die Sintflut kam und alles Böse unterging und Gott mit seiner Menschheit nochmals ganz neu anfing, wie damals, als in Sodom Lavaströme die Sünder vernichteten, damit eine neue, bessere Welt entstehen kann.

Was Jesus da sagt, wirkt auf uns vermutlich bedrohlich und unangenehm. Mit den Geschichten von Sintflut und Sodom kam das Gericht Gottes über die Welt: Menschen mussten für ihre Taten und Untaten geradestehen und die Konsequenzen tragen.

Vorstellungen vom Gericht sind auch mit dem Kommen des Reiches Gottes und den Tagen des Menschensohns verbunden. Jesus ist der Richter, der kommen wird.

»Er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten«, bekennen wir im Apostolischen Glaubensbekenntnis.

Jesus will mit der Vorhersage des Gerichts seine Freunde jedoch nicht in Angst und Schrecken versetzen.

Ganz im Gegenteil: Er will sie ermutigen, dranzubleiben an Gott, an ihrem Glauben.

Wenn solche Zeiten kommen, in denen das Leben bedroht ist von Sintflut und Feuer, von Krieg und Pandemie, ruft Jesus uns auf, bei Gott Halt und Hilfe zu suchen. Hofft auf sein Reich, das jetzt schon mitten unter euch ist. Eines Tages wird unsere Welt ganz und gar verwandelt werden. Spüren auch wir etwas von Gottes Reich mitten unter uns?

Wo Menschen sich einander verzeihen – da ist das Reich Gottes. Wo die Liebe den Hass besiegt, ist das Reich Gottes. Wo Menschen mit ihren Begabungen anderen Menschen dienen – Reich Gottes. Wo wir in unseren Gemeinden zulassen, dass Neues wachsen kann und einander vertrauen- Reich Gottes. Und wenn wir nachher gemeinsam Abendmahl feiern, dann erleben wir auch ein Stück Reich Gottes.

Wir sind Mitarbeitende Gottes an seinem Reich

Wann kommt das Reich Gottes?

Wann kommen die Tage des Menschensohns?

Jesus ist auf unsere Welt gekommen. Er hat uns eine Ahnung vom Gottes-Reich gegeben, indem er Menschen geheilt und versöhnt hat, eine zweite Chance und einen Neuanfang geschenkt hat.

Eines Tages wird er wiederkommen Er wird unsere Welt vollkommen verwandeln und Gottes Reich aufrichten. Es wird ein Reich des Friedens, der Liebe und der Gerechtigkeit sein.

Bis dahin ist es uns aufgetragen, an Gottes Reich mit zu-bauen. Wir sind berufen, Mitmenschen zum Leben zu helfen. An uns liegt es, für Frieden,

Gerechtigkeit und die Bewahrung unserer Schöpfung einzutreten.

Wir sind berufen, unsere Hoffnung weiterzusagen:

Gottes Reich ist mitten unter uns – Gott ist mitten unter uns. Amen.

Prädikantin Heike Kohler, Schura